Parlamentspräsident Martin Schulz rügt Europa-Schelte des Energiekommissars Günther Oettinger

Brüssel. Günther Oettinger ist in Brüssel dafür bekannt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Doch was der EU-Energiekommissar am Dienstagabend als Gastredner bei der Jahreshauptversammlung der Deutsch-Belgisch-Luxemburgischen Handelskammer über den Zustand Europas sagte, darf auch für Oettingers Verhältnisse als ungewöhnlich deutlich gelten. Europa sei ein „Sanierungsfall“, in Brüssel hätten viele die „wahre schlechte Lage noch immer nicht genügend erkannt“. Statt die Wirtschafts- und Schuldenkrise zu bekämpfen, führe sich Europa als „Erziehungsanstalt“ auf.

Die Reaktionen kamen postwendend und fielen heftig aus. „Da ist Oettinger wohl bei einigen Äußerungen der schwäbische Gaul durchgegangen“, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). Der deutsche Kommissar hatte in seiner Rede auch nicht mit Kritik an einzelnen EU-Ländern gespart. Insbesondere mit Frankreich war er hart ins Gericht gegangen. „Sicherlich besteht in Frankreich Reformbedarf, das ist unstrittig“, sagte Martin Schulz. Das sehe auch die französische Regierung so, die dabei sei, jahrelang Versäumtes nachzuholen. „Woran kein Bedarf besteht, sind Ratschläge von Herrn Oettinger, wie das zu machen ist“, wies Schulz den EU-Kommissar in seine Schranken.

Am Mittwochnachmittag ruderte Oettinger – anscheinend überrascht vom großen Medieninteresse – zurück: Er habe lediglich seine „persönlichen Bedenken“ zur Lage Frankreichs geäußert und dargestellt, dass die EU-Regierungen für die schwierigen Reformprozesse auf Mehrheiten daheim angewiesen seien, erklärte der Kommissar. Zuvor hatte eine Sprecherin von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Oettingers Aussagen als „persönliche Einschätzungen eines Politikers“ bezeichnet.

Aber da war es schon zu spät, die Zahnpasta konnte nicht mehr zurück in die Tube geholt werden. Die Kritik an der vermeintlichen Brandrede wollte nicht mehr abflauen. Zuspruch erntet Oettinger dafür von seinen eigenen Parteikollegen im europäischen Parlament, die finden dass er den Finger in die richtige Wunde gelegt hat. „Über die Wortwahl kann man streiten, aber es ist richtig und notwendig, dass die Probleme Europas benannt und konkretisiert werden“, sagt etwa Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament. Die wachsende Staatsverschuldung und die verschleppten Reformen der Sozialsysteme und des Arbeitsmarkts seien in einigen EU-Ländern ein echtes Problem geworden und schadeten damit der Euro-Zone und der EU insgesamt. „Da muss Versäumtes entschlossen und schnell nachgeholt werden“, fordert Reul.