Kritik am Bundesverfassungsgericht ist in der deutschen Politik weit verbreitet. Viele Politiker haben die juristische Mechanik der Macht in Europa nicht verstanden. Karlsruhe ist gar nicht so mächtig.

Berlin/Karlsruhe. Pöbeln gegen Karlsruhe hat Tradition in der deutschen Politik. Das begann mit dem ersten Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP), der dem Bundesverfassungsgericht 1952 im Konflikt über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft attestierte, es wolle Deutschland „vor die Hunde gehen lassen“. In den 1970er-Jahren wurde SPD-Fraktionschef Herbert Wehner der Satz zugeschrieben, von den „Arschlöchern in Karlsruhe“ lasse er sich Willy Brandts Ostpolitik nicht kaputtmachen.

Ganz so derb fällt die Richterschelte heute nicht mehr aus. Unverändert allerdings wird so manches Urteil der 16 Richter aus der Residenz des Rechts als Heimsuchung empfunden. Aktuell grummeln insbesondere Vertreter der Unionsparteien über die Karlsruher Rechtsprechung zur Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften.

2009 wurde erstmals höchstrichterlich entschieden, dass eine Ungleichbehandlung sachlich nicht gerechtfertigt sei. Die Homopartner übernähmen genauso Verantwortung füreinander wie Ehegatten. Damals ging es um die betriebliche Altersversorgung im öffentlichen Dienst. Es folgten gleichlautende Urteile zur Erbschaftssteuer, zum Beamtenrecht, zur Grunderwerbssteuer und zum Adoptionsrecht.

Als Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle jüngst durchblicken ließ, dass sich Karlsruhe Mitte des Jahres als nächstes der steuerlichen Gleichstellung von eingetragenen Partnerschaften beim Ehegattensplitting widmen werde, machte sich der Unmut konservativer Politiker Luft: Das sei keine Rechtsprechung mehr, hieß es, sondern gestaltende Gesellschaftspolitik. „Wenn Verfassungsrichter Politik machen wollen, mögen sie bitte für den Bundestag kandidieren“, polterte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Und CDU-Fraktionschef Volker Kauder kritisierte die Ankündigung als einen „Vorgang, den es so noch nicht gab“.

Früher waren solche Attacken gegen Karlsruhe vor allem eines: schlechter Stil. Heute zeugen sie noch von etwas anderem: dass viele Politiker die juristische Mechanik der Macht in Europa nicht verstanden haben. Dehler und Wehner haben immerhin noch den richtigen Adressaten beschimpft. In ihrer Zeit hatte das Bundesverfassungsgericht tatsächlich das letzte Wort.

Mittlerweile aber ist Deutschlands höchstes Gericht Teil des europäischen Rechtsprechungsdreiecks. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg müssen von Karlsruhe berücksichtigt werden. Fachleute beschreiben das komplizierte Verhältnis dieser drei Gerichte als juristisches „Bermuda-Dreieck“.

Die wenigsten deutschen Politiker haben sich diese europäischen Rechtsprechungsungetüme EuGH und EGMR schon einmal von innen angesehen. Doch vor einem Rüffel Richtung Karlsruhe sollten sie zumindest überprüfen, was Menschenrechtskonvention und europäische Verträge zu einem Streitfall zu sagen haben. Im Fall der Homoehe kämen Kauder, Lammert und Friedrich dann schnell zu dem Schluss, dass sie neben den heimischen Verfassungsrichtern auch die Robenträger in Straßburg und Luxemburg ins Visier müssten.

So hält der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, eine steuerliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften für beinahe zwingend, „gerade auch bei Betrachtung des internationalen Rechts“. Der Gerichtshof für Menschenrechte gehe davon aus, dass die Differenzierung nach der sexuellen Orientierung genauso unzulässig ist wie die Differenzierung nach dem Geschlecht. „Auch die europäische Grundrechtecharta, die Deutschland als Bestandteil des Lissabon-Vertrags unterschrieben hat, schließt eine Unterscheidung nach sexueller Orientierung aus“, sagte Papier. Straßburg und Luxemburg weisen Karlsruhe also den Weg, analysiert der Staatsrechtler.

Schließlich gibt es noch einen weiteren Grund für die Politik, sich etwas intensiver mit der europäischen Rechtsprechung auseinanderzusetzen. Statt sich in alter Tradition an Karlsruhe abzuarbeiten, könnte es nämlich sinnvoll sein darüber nachzudenken, wie die Position des Bundesverfassungsgerichts im Bermuda-Dreieck zu stärken ist. Denn der EuGH unternimmt gerade den Versuch, die Kompetenzen der deutschen Richterkollegen zu beschneiden.

Es geht um den heiligen Gral Karlsruhes, den Schutz der Grundrechte. Seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags wacht der EuGH über die europäische Grundrechtecharta. Nach deren Artikel 51 geht es dabei zunächst um die Kontrolle der EU-Organe. Aber darin steht weiter, dass die Charta auch dann greift, wenn EU-Recht durch nationale Gesetze umgesetzt wird. In zwei Entscheidungen hat Luxemburg diese Regelung nun sehr weit ausgelegt: Der EuGH sieht sich immer dann zuständig, wenn der nationale Gesetzgeber generell im Anwendungsfeld des Europarechts tätig wird – angesichts der zunehmenden Verrechtlichung der EU lässt sich das fast immer herleiten.

Die deutsche Politik, so Papier, beklage immer die Normenflut aus Brüssel, zu viel Vergemeinschaftung also durch ständig neue Richtlinien und Verordnungen. Die Tendenz der Vereinheitlichung, die vom Gerichtshof ausgehe, sei aber „möglicherweise sogar bedeutsamer. Einer Richtlinie oder Verordnung kann man in Brüssel widersprechen. Aber gegen die EuGH-Rechtsprechung ist die deutsche Politik machtlos.“