Zum 150. Geburtstag applaudiert auch die Kanzlerin dem politischen Gegner. Partei feiert mit prominenten Gästen im Leipziger Gewandhaus.

Leipzig. Eine Kamera oder das iPhone zückt einer. Hinter der schlichten Vitrine im Foyer des Leipziger Gewandhauses posieren drei, vier Männer und Frauen. Jene Szene wiederholt sich an diesem Donnerstag immer wieder. Die „Traditionsfahne“ der SPD ist in der Vitrine auf Hüfthöhe ausgestellt. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ ist darauf zu lesen. Zehn Jahre nach dem am 23. Mai 1863 in Leipzig gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) wurde dieses Banner gestiftet. Die Traditionsfahne wurde immer wieder versteckt, nach Bismarcks Sozialistengesetz, vor der Gestapo und zuletzt vor den sowjetischen Behörden. Die wechselvolle Geschichte der SPD symbolisiert diese Fahne, die sich so oft auf der Flucht befand; und da die Sozialdemokraten stolz sind auf ihre vergangenen 150 Jahre, lassen sie sich gern damit fotografieren.

Noch vor einem halben Jahrhundert durfte die SPD ihren runden Geburtstag in Leipzig nicht feiern, undenkbar war das in der DDR. Am Donnerstagsvormittag eröffnet das Leipziger Symphonieorchester den Festakt zum Parteijubiläum mit der Melodie der deutschen Nationalhymne. Die SPD feiert sich zwei Stunden lang so festlich und fröhlich, so lebendig und stolz, wie man sie lange nicht mehr erlebt hat. Mit sich selbst im Reinen erscheint die Partei, die sonst so oft mit sich hadert. Und alle drei Redner – Bundespräsident Joachim Gauck, Frankreichs Staatspräsident François Hollande und der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel – betonen den Freiheitsimpuls der SPD, anstatt Gleichheit zu beschwören. Sie heben das Thema Bildung als Gründungsmythos hervor und sprechen nicht von Besitzstandswahrung. In einem bunten Mix mit klassischer wie moderner Musik, Lesung und Tanz zeigt sich die SPD traditionsbewusst und doch zukunftsgewandt.

Doch der Reihe nach: Bereits am Mittwochnachmittag beginnen die Feierlichkeiten. SPD-Chef Gabriel enthüllt in Leipzigs Innenstadt einen Gedenkstein, wo sich einst das „Pantheon“ fand, in dem Ferdinand Lassalle mit elf Genossen den ADAV gegründet hatte. Im Jahre 1977 war dieses Gebäude abgerissen worden, ausgerechnet von der SED, die zwar den ADAV für sich okkupierte, aber über den „bürgerlichen“ Gründer Lassalle lieber schwieg. Der sächsische SPD-Chef Martin Dulig erinnert an den Mut von 1863 – und verknüpft ihn in der „Heldenstadt“ Leipzig mit dem Herbst 1989. Die damals gegründete Sozialdemokratie in der DDR habe der SED die Machtfrage gestellt: „Dazu gehörte Mut.“ Wer dann zwei Stunden später vernimmt, wie der DGB-Vorsitzende Michael Sommer 1989 politisch ganz anders einordnet, traut seinen Ohren kaum. Sommer beschreibt das Jahr 1989 als Beginn von „Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung“. Der „Siegeszug des Neoliberalismus“ begann also gewissermaßen, folgt man Sommer, in der Leipziger Nicolaikirche und mit den Montagsdemonstrationen.

Am Donnerstag dann, in der ersten Reihe des Gewandhauses, nehmen eine ältere Dame und zwei ältere Herren Platz: Sie alle gehören, jeder für sich, seit mehr als 80 Jahren der SPD an. Noch zwölf Sozialdemokraten leben, die vor 1933 der Partei beigetreten sind. Immerhin drei von ihnen sind heute zugegen. Ehrenplätze nehmen sie heute ein, neben dem bei Parteiveranstaltungen stets präsenten Erhard Eppler und den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel, Rudolf Scharping, Kurt Beck und Franz Müntefering. Viele Augen im Konzerthaus richten sich nach vorn, während sich die Altbundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder einfinden. Erst recht gilt das für jenen Moment um 10.52 Uhr, als Schröder seine Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) begrüßt. Auch Claudia Roth (Grüne), Katja Kipping (Linke) und Patrick Döring (FDP) sind da. Nur die CSU ist nicht präsent.

Eigens komponiert hat der Leipziger Universitätsmusikdirektor für die SPD – und so erklingt ein Potpourri aus Marseillaise, „Die Gedanken sind frei“, „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“ und „Brüder zur Sonne zur Freiheit“. Ein Film erinnert an die historischen Leistungen der SPD. „Was bedeutet das alte Vorwärts?“, fragt der Bundespräsident in seinem Grußwort und buchstabiert sozialdemokratische Politik: Bildung, Aufstieg, Selbstermächtigung. Reform statt Revolution. Der Ohnmacht trotzen. Joachim Gauck würdigt Otto Wels’ Auftritt gegen das sogenannte Ermächtigungsgesetz 1933 als „mutigste Rede, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde“. Er hebt „die erste Phase der Ostpolitik“ hervor, Egon Bahrs Wandel durch Anbiederung in den 80er-Jahren verschweigt Gauck generös. Von „bleibenden Verdiensten“ der Kanzler Schmidt und Schröder spricht Gauck. Er wird dann so deutlich, dass wohl jeder im Saal versteht, was gemeint ist, Schröders Arbeitsmarktreformen nämlich. Manchmal seien „Zumutungen“ nötig, die kurzfristigen Parteiinteressen widersprächen. „Gerade solche Entscheidungen waren oftmals verantwortungsbewusste Entscheidungen für das ganze Land“, sagt Gauck. Der Saal applaudiert, bis auf die Prominenz des DGB.

Beifall brandet auf, als François Hollande die Bühne betritt. „Seien Sie stolz auf Ihr heutiges Fest“, ruft der französische Präsident den deutschen Genossen zu. Vielleicht weiß – oder ahnt – Hollande, wie schwer sich die SPD tut mit dem Stolz auf eigene Leistungen. Schröders Politik, sagt Hollande, „erlaubt es Ihrem Land, gegenüber anderen Ländern in Europa die Nase vorn zu haben“. Realismus bedeute keinen Verzicht auf Ideale; wichtig sei der Wille, Realitäten zu verändern. Er wolle dies nun wagen, sagt Hollande, nicht nur mit Blick auf die heimische Jugendarbeitslosigkeit. In deutscher Sprache schließt Hollande: „Es lebe Deutschland, es lebe Frankreich, es lebe die deutsch-französische Freundschaft!“ Ovationen im Stehen.

Mit seiner einzigartigen Gabe für (Selbst-)Ironie und Emotionen erfährt Sigmar Gabriel die volle Aufmerksamkeit des Saales. Eben erst haben die „Flying Steps“ die Gäste begeistert. Die drahtigen Breakdance-Weltmeister wirbeln über die Bühne, drehen rasant kunstvolle Pirouetten, ohne dass ihnen schwindelig wird. „François Hollande meinte, ich solle das jetzt auch machen“, sagt Gabriel, kaum dass er hinter dem Rednerpult steht. Lautes Gelächter. „Ich hab gesagt: Nur wenn Frau Merkel mitmacht“, legt Gabriel nach. Unfreiwillig komisch begrüßt Gabriel die Kanzlerin dann als „Frau Bundespräsidentin“. Grummeln im Saal. „Was hab ich gesagt?“, fragt der beste Redner seit Gerhard Schröder irritiert und setzt noch einen drauf: „Ich bin der Zeit voraus, Frau Merkel.“ Beifall. „Aber dass jetzt keiner glaubt, da sei eine Verabredung.“

So gut wie sich Merkel und Gabriel verstehen, könnte man das sehr wohl glauben. Der SPD-Vorsitzende hält eine moderne Rede. Immer wieder applaudiert auch: Angela Merkel. Am Ende zitiert Gabriel den Philosophen Ernst Bloch: „Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern!“ Im Herbst wird man sich dieser Worte erinnern.