Der politische Arm der Netzgemeinde will sich ein Programm geben – und muss Personaldebatten fürchten

Berlin. Wäre man gemein, könnte man sagen: Keine andere Partei war zuletzt so erfolgreich wie die Piraten. Schließlich scheinen sie ihr großes Ziel erreicht zu haben. Wie man auf diese Deutung kommt? Auf dem Höhepunkt des Piraten-Hypes sprach die damalige politische Geschäftsführerin Marina Weisband aus, was auch viele andere in der Partei dachten: „Unser Ziel ist, uns selbst überflüssig zu machen.“

Diese Bedeutungslosigkeit scheint mittlerweile erreicht. Auch wenn sich die Piraten das natürlich anders vorgestellt hatten. Weisband kokettierte damals: Man könne sich guten Gewissens auflösen – wenn die anderen Parteien die Ideen der Piraten klauen würden.

Zu einem geringen Teil ist das nun sogar passiert. Zu einem überwiegenderen Teil allerdings haben sich die Piraten durch eine rücksichtslose Selbstbeschäftigung von einstmals zwölf Prozent Zustimmung auf rund drei heruntergestritten.

Derzeit gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Piraten doch noch im Herbst in den Bundestag einziehen. Die Revolution ist zunächst abgesagt. Bei vielen Mitgliedern haben die Streitereien tiefe Wunden hinterlassen. Und die Allgemeinheit wird sicherlich keine Partei im Parlament vermissen, die oft zankt und für inhaltliche Diskussionen dann keine Puste mehr hat.

Insofern bietet der Bundesparteitag von Freitag bis Sonntag in Neumarkt in der Oberpfalz eine Chance. Schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden. In Bayern wollen die Piraten das Wahlprogramm auf den Weg bringen. Liberal und sozial wird das wohl aussehen. Im Vordergrund stehen dabei die bekannten Kernthemen: Netzpolitik, Bürgerbeteiligung und Datenschutz – aber auch Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Die Piraten wollen schließlich den tief greifenden Wandel der Gesellschaft durch die Digitalisierung mitgestalten. Hierin ist man sich einig.

Die Fetzen werden aber wohl auch fliegen – und zwar gleich am ersten Tag. Da geht es zunächst um frei gewordene Posten im bisherigen Zentrum des Piraten-Streituniversums, dem Bundesvorstand. Aus dem Amt ausscheiden und nicht zur Neuwahl antreten – das hat er jedenfalls angekündigt – will der politische Geschäftsführer Johannes Ponader. Er hatte von der Basis miese Noten bekommen. Es gibt bereits einige Kandidaten für das Amt, das ein wichtiges Sprachrohr für die Partei sein kann.

Eigentlich sollten die Piraten mittlerweile wissen, wie aufzehrend und unbeliebt Personaldiskussionen beim Wähler sind. Doch auch in Neumarkt könnte es erneut Zoff darüber geben, ob nicht doch der gesamte Bundesvorstand neu gewählt werden soll. Im Hintergrund werben prominente Piraten sogar dafür. In der Kritik steht derzeit vor allem der Bundesvorsitzende Bernd Schlömer. Die „taz“ zitierte ihn zuletzt mit dem Satz: „Uns fehlt die Kraft und die Motivation für den Wahlkampf.“ Das regte viele Piraten auf. Hessische Parteimitglieder posteten sogar ein Foto, auf dem sie Schlömer den Mittelfinger zeigen. Der Parteichef dementierte zwar umgehend, den zitierten Satz gesagt zu haben – doch das interessierte manche Piraten schon gar nicht mehr.

„Der Bundesvorstand ist in der Piratenpartei traditionell Ziel von Kritik“, sagt Schlömer. „Es ist wie ein lieb gewordenes Ritual: Immer ist es der Buvo, der an allem Übel schuld sein soll, was gerade so in der Partei passiert.“ Schlömer hofft, dass der Parteitag auf eine langatmige Personaldebatte über den Bundesvorstand verzichten wird. „Ich glaube nicht, dass diese aufkommen wird.“ Und wenn doch – sie würde wohl ohne ihn stattfinden. Schlömer reist erst am Freitagabend an.

Vor allem ein Thema birgt jedoch Sprengstoff, und es könnte sogar sein, dass die Partei nach diesem Wochenende noch mehr in Trümmern liegt als bisher. Die anreisenden Piraten – Delegierte gibt es weiterhin nicht – werden sich voraussichtlich mit der Ständigen Mitgliederversammlung (SMV) beschäftigen. Es geht um die Frage, ob die Piraten auch zwischen Parteitagen per Internet Positionen beschließen wollen.

Die Fallhöhe ist groß: Manche Piraten haben bereits ihren Austritt angekündigt, falls die SMV nicht beschlossen wird. Die bei vielen Piraten sehr beliebte Marina Weisband hat bei Twitter geschrieben: „Auch für mich wird die SMV im Bund der größte Entscheidungsfaktor sein, wie intensiv ich mich zukünftig engagiere.“ Der Berliner Fraktionschef Christopher Lauer sagt: „Wenn man in 30 Jahren zurückschaut auf die Piratenpartei, dann könnte dieser Parteitag eine wichtige Rolle spielen.“ Er persönlich hoffe, dass die Partei die SMV beschließe und damit neue Wege gehe. „Es geht um Glaubwürdigkeit. Wenn wir als Partei Bürgerbeteiligung fordern, dann müssen wir es auch als Partei ordentlich umsetzen.“

Die Kritiker der SMV, darunter der Vorsitzende der Kieler Fraktion, Patrick Breyer, sowie der ehemalige Bundesvorsitzende Jens Seipenbusch, warnen vor deren Risiken. Abstimmungen über das Netz könnten manipuliert werden, ohne dass es auffällt.

Einen Mittelweg schlägt Schlömer vor. Er hat eine Kompromissformel vorbereitet für den Fall, dass die Diskussion eskaliert. „Aber ich sage auch: Ja, wir sollten Online-Tools einführen, um Online-Parteitage durchzuführen.“ Die Öffentlichkeit erwarte dies.

Die Frage, ob dieser Parteitag die SMV beschließt, könnte wichtig für die Zukunft der erst 2006 gegründeten Partei sein. Die Piraten suchen in Neumarkt ihre Seele. Sie sind für viele der politische Arm der sogenannten Netzgemeinde – einer Interessengruppe, die mit dem Leistungsschutzrecht, der Bestandsdatenauskunft und dem Bekenntnis der großen Parteien zur Vorratsdatenspeicherung zuletzt viele Niederlagen einstecken musste.

Ähnlich wie der Internet-Aktivist Sascha Lobo geht Schlömer davon aus, dass auch Netzaktivisten Kompromisse eingehen müssen, wenn Politik nicht weiterhin über ihre Köpfe hinweg entschieden werden soll. „Die Piratenpartei muss auch Ergebnis- und Führungsverantwortung übernehmen, wenn sie eines Tages ihre Ziele durchsetzen möchte“, sagt Schlömer. „Und sie wird es immer nur mithilfe von Kompromissen schaffen.“ Der Piraten-Chef wäre auch bereit, ungewöhnliche Koalitionen einzugehen. Selbst vor einer Zusammenarbeit mit der Union und Bundeskanzlerin Angela Merkel schreckt er nicht zurück: Die Piraten müssten sich mittelfristig die Frage stellen, ob sie auch bereit wäre, mit anderen politischen Parteien zu koalieren, findet Schlömer. Es geht ihm um inhaltliche Bündnisse auf Zeit: „Dabei sollte man niemanden ausschließen, sofern er verfassungstreu ist und es inhaltlich passt.“