Vor dem Bundesparteitag provoziert Baden-Württembergs Ministerpräsident die Parteispitze. Er warnt vor zu hohen Steuern für Bürger und Wirtschaft

Hamburg/Berlin. In der Villa Reitzenstein blüht Winfried Kretschmann, 64, noch einmal richtig auf. Der baden-württembergische Ministerpräsident, der erste Grüne in diesem Job, räumt im Amt mit Verkrustungen auf, die seine Partei aus ihrer gut 30 Jahre währenden Geschichte mit sich schleppt. „Irgendwo muss das Zeugs ja hin!“ Das war Kretschmanns realpolitischer Ausruf zur Lösung der Endlager-Frage. Man müsse ergebnisoffen prüfen, wo Atommüll gelagert werden könne, nicht nur in Gorleben, mahnte Kretschmann.

Übersetzt hieß das: Auch zwischen Mannheim und südlichem Schwarzwald könnte dieser Ort liegen. Für Tabubrüche und kleine Stiche gegen die Bundespolitiker wie Jürgen Trittin und Renate Künast ist der „Kretsch“, wie sie ihn nach dem Wahltriumph im Frühjahr 2011 im Ländle nennen, immer gut. Und nun wehrt sich der katholische Biologielehrer vom Bodensee mit Händen und Füßen gegen allzu starre Steuerpläne der Grünen. Weder die Wirtschaft noch die Bürger dürften nach der Bundestagswahl durch zusätzliche Abgaben belastet werden. „Eine zu hohe Gesamtbelastung halte ich für problematisch“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ pünktlich zum Bundesparteitag der Grünen. „Ich glaube nicht, dass man in einer Legislaturperiode mehr als zwei Steuern erhöhen kann.“

Das richtet sich gegen das Programm, das seine Partei an diesem Wochenende in Berlin verabschieden will. Im bisherigen Entwurf sind zahlreiche Belastungen für Besserverdienende und Vermögende vorgesehen. Wer jährlich 80.000 Euro oder mehr zu versteuern hat, soll künftig einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent bezahlen. Derzeit liegt er bei 42 Prozent und greift von knapp 53.000 Euro an. Zudem wollen die Grünen zeitlich befristet eine Vermögensabgabe zur Tilgung von Bundesschulden erheben. Dabei sollen Nettovermögen von mehr als einer Million Euro pro Kopf jährlich mit 1,5 Prozent belastet werden.

Für Kretschmann ist das Gift gegen eine florierende Wirtschaft. Vor allem in Baden-Württemberg geht es den Unternehmen recht gut. In Kretschmanns Heimat hat sich außerdem ein Wandel vollzogen, von dem gerade die Grünen im Land profitieren. Nicht nur, dass die Umfragewerte für Kretschmann nach wie vor hervorragend sind. Viele Konservative können sich im Stammland von Union und FDP mit der Figur des Ministerpräsidenten identifizieren. Das bringt ihm Auftrieb auch auf der Bundesebene.

Kretschmann sagte, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes sei unstrittig, auch wenn er ihn lieber erst von 100.000 Euro an erheben würde. Aber über alle weiteren Reformen solle man reden, wenn man nach der Bundestagswahl in einer Regierung sitze. Er wolle der Wirtschaft „keine unzumutbaren Belastungen aufbürden“.

Über die Steuerpläne gibt es bei den Grünen seit Wochen Debatten. Während die Parteiführung und vor allem Spitzenkandidat Trittin sie verteidigt hatten, war vom Realo-Flügel eine Reihe an Änderungswünschen gekommen. Kretschmann warnte seine Partei auch vor einem „Lagerdenken“. Zwar sei eine Koalition mit der SPD eindeutig zu bevorzugen, die Grünen seien aber „von der Union auch nicht so meilenweit weg, dass wir mit ihr, sollte es für Rot-Grün nicht reichen, nicht mal Sondierungsgespräche führen könnten“.

Dagegen erklärten die Parteivorsitzenden Cem Özdemir und die Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt eine Koalition mit der Union für kaum vorstellbar. Die Union habe sich nicht modernisiert. Parteichefin Claudia Roth sagte der „Berliner Zeitung“, die Grünen und ihre Wähler wollten den Politikwechsel. „Sie wollen nicht Steigbügelhalter für den Machterhalt von Angela Merkel sein.“ Die Vorstellungen der Union seien „Lichtjahre von uns entfernt“. Auch Göring-Eckart sieht kaum Anknüpfungspunkte. „Über unser Wahlprogramm würde man mit der Union zu 80 Prozent nicht mal reden können“, sagte sie „Spiegel Online“.

Die Pläne der Grünen für eine Vermögensabgabe und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes kommen gut an. Im ZDF-Politbarometer sprachen sich 52 Prozent für die geforderte Erhöhung der Einkommenssteuer ab 60.000 Euro Jahreseinkommen und einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent ab 80.000 Euro aus. 43 Prozent hielten die Pläne für falsch. Die Vermögensabgabe für Millionäre zur Haushaltssanierung begrüßen 72 Prozent der Befragten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel schließt Steuererhöhungen nach der Wahl aus. Merkel sagte vor Familienunternehmern, eine christlich-liberale Koalition werde daran festhalten, keine Steuern zu erhöhen und keine neuen zu erfinden. „Es wird mit mir überhaupt keine Vermögenssteuer geben.“ Sie machte klar, dass es aber auch keinen Spielraum für Steuersenkungen gebe.