Deutsche Moskau-Politik in der Sackgasse: Weder die Kritik der Kanzlerin noch die Umarmungen von SPD und Wirtschaft erreichen etwas

Hannover. Es gab einen ganz besonderen Moment bei diesem Treffen des russischen Präsidenten mit der Bundeskanzlerin. Nein, nicht die viel fotografierte und sofort genüsslich im Internet verbreitete „Nackt-Attacke“: Mehrere junge Frauen, angeblich Ukrainerinnen, hatten einen Rundgang der Politiker über die Industriemesse in Hannover am Stand des Volkswagen-Konzerns gestört. Mit entblößten und mit politischen Parolen („Fuck Dictator“) beschriebenen Brüsten eilten sie auf die Politiker zu. Solche Aktionen gelten als feministisch, doch die Szene zeigte, dass diese Art von Protest sich bestens in Wladimir Putins machohafte Inszenierung von Macht und Potenz einfügt: Der Präsident reagierte sofort hämisch, grinste und hielt die Daumen wie zur Ermunterung nach oben. Später reduzierte er den Protest der Frauen auf die Körper, indem er sagte, er habe gar nicht erkennen können, „ob sie blond oder braun“ waren, und machte die Aktivistinnen lächerlich: Man müsse ihnen dankbar sein, denn ohne solche Auftritte würde über die Messe weniger gesprochen.

In Verlegenheit war nicht der Autokrat gekommen, sondern seine Gastgeberin: Angela Merkel wirkte, anders als Putin, bei der Entblößung tatsächlich kurz verstört. Anschließend musste sie die Behauptung Putins („Wir haben gewusst, dass so etwas in Vorbereitung ist“) hinnehmen und ihrerseits zur Entblößung Stellung nehmen. „Wir sind ein freies Land, und man kann demonstrieren“, erklärte Merkel. Ob der Protest „rechtmäßig“ sei, werde noch geprüft, wich sie aus.

Wirklich etwas lernen über das Verhältnis von Merkel und Putin konnte man etwas später. Bei der gemeinsamen Pressekonferenz fiel kurz die deutsche Übersetzung auf dem Kopfhörer der Kanzlerin aus. Der Präsident, der als KGB-Agent in den 80er-Jahren in Dresden stationiert war, spricht fließend Deutsch. Dies nutzte er, um mit Merkels Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) besondere Vertraulichkeit aufzubauen, indem er ohne Übersetzung mit ihm sprach. Merkels ihrerseits wuchs in einer russischen Garnisonsstadt in der DDR auf, gewann als Schülerin eine Moskaureise in einem Sprachwettbewerb und beherrscht Russisch bis heute. Dennoch bestand sie seit ihrem Antrittsbesuch bei Putin im Jahr 2006 konsequent auf Übersetzung der Gespräche – damit stärkt sie vor allem die Position ihrer des Russischen nicht mächtigen Mitarbeiter in den harten Detailverhandlungen mit dem Kreml.

Als nun in Hannover das Mikrofon ausfiel, wiederholte sich diese Urszene der Merkel-Putin-Beziehung zum ersten Mal vor der Öffentlichkeit. Der Präsident verließ nämlich sein Pult, ging zu Merkel hinüber und übersetzte ihr die Frage eines russischen Journalisten. Doch Merkel blieb bei ihrer Linie, verlangte: „Wir müssen noch klären, was mit der Übersetzung ist“ – und blieb so auf Distanz. Das Gerät fiel ausgerechnet aus, als über die Durchsuchung von deutschen Stiftungen durch russische Behörden gesprochen wurde.

Die deutsche Öffentlichkeit hatte Putins Umgangsformen bereits am Freitag kennengelernt: Da wurde ein Interview ausgestrahlt, dass der Chefredakteuer des Westdeutschen Rundfunks, Jörg Schönenborn, im Kreml geführt hatte. Putin versuchte, den Journalisten offen einzuschüchtern. Seine inhaltlichen Positionen aus dem Interview wiederholte er in Hannover fast wortgleich: Das Vorgehen der russischen Behörden gegen deutsche politische Stiftungen sei international nicht ungewöhnlich, und das Ausland finanziere die russische Opposition. Merkel widersprach im Detail („Natürlich ist es eine Störung, wenn Festplatten kontrolliert werden“) und versuchte, das Beharren einer selbstbewusster werdenden Bevölkerung auf politischen Rechten als Teil der russischen Modernisierungserfolge zu beschreiben.

Allerdings weiß die Kanzlerin selbst, dass sie in diesem Punkt bei Putin auf Granit beißt. Ihre Politik, den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen zu verbinden, ist in einer Sackgasse gelandet. Da die Wirtschaft ohnehin investiert, lässt Putin Merkel einfach abblitzen. Ihre zwischenzeitliche Hoffnung, in Putins Vorgänger im Präsidentenamt und Nachfolger als Ministerpräsident, Dmitri Medwedew, einen alternativen Machtpol entdeckt zu haben, trog. Doch nicht nur Merkel braucht eine neue Russlandpolitik: Von den Grünen bis zur FDP teilen alle ihre Putin-Kritik, selbst den maßgeblichen Leuten in der SPD ist die Anbiederung Schröders heute peinlich. Wie man mit deutschem Klartext etwas in Russland erreichen kann, weiß aber niemand.