Die Privatsphäre ist Bundeskanzlerin Angela Merkel heilig, vor allem mit der Familie. Es sei denn, wichtige Wahlen stehen vor der Tür.

Berlin. Der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter hat sich empört über „versteckt aufgenommene“ Urlaubsfotos geäußert. Sie zeigen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer erweiterten Familie beim Wandern auf Ischia. Einer ihrer angeheirateten Söhne ist mit seiner Frau und seinen Kindern in die Osterferien gekommen, und natürlich hat der Regierungssprecher recht, wenn er sagt, „dass es nicht immer entspannend ist, wenn man irgendwo Urlaub macht und das Gefühl hat, aus jeder Ecke lugt ein Objektiv hervor“. Wer möchte das schon außer einer Generation, die jede Minute im Internet kundtut, was man gerade tut oder tun will, und für die bloße Wanderfotos im Netz völlig normal und kein Tabubruch sind. Und wer möchte schon im Urlaub Fotografen sehen, außer einer Bundeskanzlerin, die vor einer Bundestagswahl mit womöglich extrem knappem Ausgang unauffällig Normalität demonstrieren will.

Es klingt zynisch, so etwas zu schreiben. Es gibt aber unter Journalisten eine seit Langem gültige Erkenntnis: Wer privat nicht fotografiert werden möchte, wird privat nicht fotografiert. Das funktioniert. Es gibt von einer Reihe Prominenter nicht ein einziges Urlaubsfoto, kein einziges Skandalbild, einfach gar nichts – weil sie es so wollen. Wie verhindert eine Bundeskanzlerin Urlaubsfotos? Sie könnte, zum Beispiel, das Urlaubsziel geheim halten. Sie könnte an ihrer Luftwaffenmaschine den Transponder abstellen lassen, wie es Barack Obama macht, damit der Flug nicht im Internet verfolgt werden kann. Sie könnte in einem Ferienhaus wohnen statt in einem bekannten Hotel. Sie könnte dort einen privaten Pool benutzen statt wie jetzt zu Ostern ein unter Reisenden sehr bekanntes, öffentlich zugängliches Thermal-Erlebnisbad.

Und sie könnte, was am weitaus wirkungsvollsten wäre, intern der Presse schwerste Sanktionen androhen, falls von ihrem Urlaub auch nur ein stecknadelkopfgroßes Bild erscheinen sollte. Die Macht dazu hat sie, und andere Prominente machen das zuweilen auch. Die absolute Geheimhaltung auf Wunsch der Bundeskanzlerin klappt vor ihren Flügen nach Afghanistan sehr gut, und auch von den Wochenenden in ihrem Haus in der Uckermark gibt es keinerlei Bilder. Selbst George W. Bush war es 2003 gelungen, sich von seiner Ranch in Texas zu stehlen, um unerkannt nach Bagdad zu fliegen. Rund um die Ranch lagen Dutzende Journalisten auf Lauer. Bush fuhr an ihrer Nasenspitze vorbei zum Flugplatz, und sie haben nichts bemerkt. Hätten sie auch nur einen Mucks von sich gegeben, wären sie zum letzten Mal in seine Nähe gekommen.

Angela Merkel hat also angeheiratete Söhne und Enkel. Wer das wissen wollte, konnte es seit Jahren wissen. Die beiden Söhne Joachim Sauers heißen Daniel, geboren 1974, und Adrian, geboren 1976. Ihre Mutter ist eine Schulfreundin Joachim Sauers. Der eine soll im Süden Deutschlands leben, der andere wohnt in Leipzig und ist ein anerkannter Künstler. Den älteren Sohn nahm das Ehepaar Merkel 2009 mit zu den Wagnerfestspielen in Bayreuth. Seither gibt es Fotos von ihm. Der andere ist nun mit nach Ischia gekommen. Interessant daran ist nichts außer dem Umstand, dass es der mächtigsten Frau der Welt und ihrem in Wissenschaftskreisen hoch geachteten Mann gelingt, dieses Familienleben perfekt zu kontrollieren. Adrian Sauer hat zwar eine berufliche „Webpräsenz“, wie es so schön heißt. Auch Angela Merkels jüngere Schwester besitzt eine solche.

Merkels jüngeren Bruder kann man im Netz gleichfalls ausfindig machen. Von ihm, ebenfalls ein Physiker, gibt es dort ein altes Foto aus der Zeit, als er für drei Monate in Moskau am Kernforschungszentrum arbeitete. Das war im Herbst 1989. Angela Merkels Bruder hat 2005 in der „tageszeitung“ ausführlich über sein Verhältnis zu Angela Merkel gesprochen. Es schien damals eher distanziert gewesen zu sein; wie Joachim Sauer ist auch der Bruder mit Leib und Seele Wissenschaftler. Etwas erstaunt über sich selber gab er damals zu Protokoll, er habe mit seiner Schwester zwar nur selten über Politik gesprochen, aber zu seiner nachträglichen Verblüffung auch niemals über Physik. Von solch seltenen Wortmeldungen abgesehen ist die Familie der Bundeskanzlerin im Grunde genommen jedoch ein lebendes Projekt zur Eindämmung des Internets. Das liegt nahe, wenn man in einem Überwachungsstaat aufgewachsen ist. Es liegt noch näher, wenn der Ehemann ein in sein Forschungsgebiet vergrabener Experte von Weltrang ist. Joachim Sauer wurde nach dem Kollaps der DDR sofort in die USA engagiert, nur aufgrund seiner Fachaufsätze, reisen hat er ja bis 1989 nie dürfen. Ein solches Engagement vom Fleck weg nach Kalifornien ist selten, aber Joachim Sauer war im fernen Westen bereits eine Legende auf seinem Fachgebiet. Jetzt heißt es, ein Nobelpreis nur und allein für ihn liege inzwischen in Sichtweite. Die Vorstellung, er warte abends auf interessante Neuigkeiten seiner Frau, um dem eigenen Dasein Farbe zu geben, ist so abseitig wie Schnee im Sommer.

Seine Frau schreibt ihm freitags Einkaufszettel, sagte sie der Zeitschrift „Emma“, aber sie geht auch gern selber einkaufen, sie tut es mit großer Freude; Fotos davon gibt es nicht von professionellen Fotografen. Seine Frau hat einen weitverzweigten Bekanntenkreis, unter ihnen Menschen, auf die nie jemand kommen würde und von deren Bekanntschaft mit ihr auch nie jemand erfahren wird, es sei denn, Angela Merkel machte sie öffentlich. Das wird sie nicht tun. Sie will jenseits des Machtprotokolls einen Bereich ganz normaler Kontakte behalten, den sie weiterhin so normal anrufen kann, wie sie es vor dem Amtseid 2005 gern und oft getan hat.

Sie möchte einen Bereich behalten, in dem sie zur Entspannung und zur Freude für einige Stunden einfach nur Angela Merkel sein kann. Im Gegensatz zu manchen anderen Großmächtigen der Welt gelingt ihr das ohne Probleme. Sie hat sich niemals etwas aus Protokollfragen gemacht, es sein denn, sie symbolisieren politische Vorgänge; sie würde niemals wie mancher Amtskollege auf dieser oder jener Ehrerbietung bestehen, nur um sich selber erhöht zu fühlen. Auch das hat sie bis 1989 in dem Mauerstaat, in dem sie lebte, bis zum Erbrechen erleben müssen, die ganzen gekünstelten Wichtigkeiten für die ganzen kleinen Wichtel in Parteipositionen. Nicht mit ihr.

Ein Wahlkampf aber, dessen Ausgang über das Schicksal des Euro mitbestimmend sein könnte, hat eben seine eigenen Gesetze. Scheinbar flüchtig aufgenommene Fotos, die in weit verbreiteten Publikationen für bestimmte Wählergruppen jenseits der Politik-Interessierten wichtig sind – solche Bilder können Einfluss auf den Wahlausgang haben; es muss sie also geben. Und nun gibt es sie.