Von Energiewende bis Homo-Ehe: CDU kapert die Kern-Themen der Opposition. In Hamburg verteidigt Peer Steinbrück seine Partei als treibende Kraft.

Hamburg/Berlin. Peer Steinbrück erzählt eine Anekdote von Peter Struck. Der kürzlich verstorbene SPD-Politiker habe einmal erzählt, dass er gerne mit der Kanzlerin in einem Flugzeug fliege. Merkel sei die Pilotin, habe Struck dann immer gesagt. Merkel wisse sogar, wie das alles technisch funktioniert in dem Flieger, weil sie ja schließlich Physikerin ist. Aber Struck habe nie gewusst, wo das Flugzeug mit Angela Merkel am Steuer landen würde. Struck war damals SPD-Fraktionsvorsitzender in einer Großen Koalition, als er die Geschichte erzählt habe, unter der Pilotin Angela Merkel als Kanzlerin. Und das Flugzeug, das ist ihre Politik. Als Peer Steinbrück mit der Anekdote fertig ist, bewertet er die Politik der Kanzlerin noch mal in seinen eigenen Worten: "Merkel fehlt die Idee, wo sie mit Deutschland dauerhaft hinmöchte", sagt er und fragt: "Welchen Wertekompass hat die Kanzlerin?"

Steinbrück sitzt auf einem roten Stuhl neben "Spiegel"-Chefredakteur Georg Mascolo. Er ist eingeladen nach Hamburg, zur Körber-Stiftung in die HafenCity. "Der Montag an der Spitze", so heißt die Debatten-Reihe der Stiftung und des Magazins. Und Steinbrück steht an der Spitze seiner Partei - für die SPD soll er im Herbst Kanzler werden. Aber mit welchen Themen eigentlich? Merkel sei beliebter als Steinbrück, und nun besetze die Union auch noch alle linksliberalen Inhalte der SPD, sagt Mascolo. "Man hat den Eindruck, die SPD will immer nur etwas mehr als die Union." Wehrpflichtwende, Atomwende, Mindestlohnwende, dann kehrte die CDU auch dem dreigliedrigen Schulsystem den Rücken zu. Und nun auch noch die fundamentalistische Wende bei der Homo-Ehe. Merkel verlässt "Markenkerne" von CDU und CSU und rückt in die programmatische Nähe zur SPD. Es beginnt der Kampf um den Wähler links der Union.

Steinbrück sagt: "Die Union rennt der SPD hinterher." Merkel merke, dass die Ansichten der CDU von einem großen Teil der Gesellschaft nicht mehr getragen würden. "Jetzt braucht Merkel eine Immunisierung", sagt Steinbrück im Körber-Forum. Während der Diskussion sucht er eine Grenze zu Merkel, ohne die Kanzlerin dabei persönlich zu attackieren. Steinbrück zweifelt nicht daran, dass Merkel beliebter ist als er selbst. Aber in den Inhalten sieht er große Unterschiede. Die SPD wolle Reiche stärker besteuern, seine Partei wolle eine verbindliche Quote für Frauen in Aufsichtsräten und keine "Flexi-Quote" wie CDU-Familienministerin Kristina Schröder, die SPD strebe den flächendeckenden Mindestlohn an und keine Lohnuntergrenze wie die CDU. An Punkten wie diesen verwischen für den Zuschauer die Inhalte von CDU und SPD dann doch wieder. Oftmals referiert der Kanzlerkandidat sein Programm nur im Telegramm-Stil: Faire Löhne wolle er, mehr Geld für Kinder-Betreuung, günstige Mieten. Dinge, die Merkel genauso fordern könnte. Auch ohne eine epochale Wende in ihrem politischen Programm.

Dabei vollzog Merkel zuletzt mehrfach 180-Grad-Wendungen. Wiederholt propagierte sie das Gegenteil dessen, was sie noch kurz zuvor verkündet hatte. Merkels diverse Positionswechsel in der europäischen Staatsschuldenkrise sind längst legendär. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Adoptionsrecht homosexueller Paare ("Sukzessivadoption"), aber noch mehr in Erwartung eines sommerlichen Richterspruchs zur steuerlichen Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe, ist Merkels Flexibilität wieder gefragt. Ausgerechnet Unions-Fraktionschef Volker Kauder, ihr wichtigster Mann im Bundestag, treibt einen Kurswechsel seiner Partei zur Gleichberechtigung von Homo-Ehen nun voran. Der "wertkonservative" Kauder lässt intern Modelle für eine Gestaltung einer steuerlichen Gleichstellung erarbeiten. Vor gut zwei Monaten hatte der CDU-Parteitag eine solche Gleichbehandlung noch verworfen, eine Mehrheit der Delegierten stimmte für einen ablehnenden Antrag der konservativen CDU Fulda.

Die Opposition könnte sich in diesem Falle erfreut zurücklehnen - und abermals feststellen, dass eine schwarz-gelbe Regierung rot-grüne Politik macht. SPD und Grüne hatten in ihrer ersten gemeinsamen Regierung das Lebenspartnerschaftsgesetz überhaupt erst verabschiedet, gegen Anfeindungen und teilweise hanebüchene Kritik der Union. Die Vorsitzende der CDU hieß damals übrigens: Merkel. Doch ziemlich genau ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl mögen Sozialdemokraten und Grüne über die Bewegung innerhalb der CDU nicht jubilieren. Die SPD ahnt, was droht. Die Oppositionsparteien müssen wiederholt erleben, dass Merkel ein Thema kapert. Und auch noch damit punktet - selbst wenn sie dabei, wie meistens, mehr von Opportunismus getrieben wird denn von Überzeugung. Mit dem als "Energiewende" verunklarten Atomausstieg hat die Kanzlerin der SPD ein Thema genommen, den Grünen entriss sie nebenher gar ihren Gründungsmythos.

Sie besäßen die Meinungsführerschaft in Deutschland, betonen SPD und Grüne. Das ist richtig, und doch wirkt der Hinweis trotzig und ein wenig ängstlich. Eine Wechselstimmung gibt es nicht, und neben der vollkommen lädierten FDP erfreut sich die CDU/CSU einer gewissen Popularität. Womöglich, hofft man in der SPD, werde der Wähler Merkels Beliebigkeit eines Tages doch noch misstrauen. Doch gelang es Herausforderer Steinbrück in den bisherigen fünf Monaten seiner Kanzlerkandidatenzeit nur bedingt, mit seinen Positionen zu punkten.

Wie er sich von der Kanzlerin unterscheidet, verdeutlichte Steinbrück im Körber-Forum mit einem Gleichnis: Die SPD stehe dafür, dass sich der Fahrstuhl der deutschen Gesellschaft weiter bewege. Mit Merkel sei sozialer Aufstieg nicht zu machen.