Kasse wollte Therapie für 72-jährige leukämiekranke Hamburgerin nicht zahlen. Gericht urteilt: Versicherung muss Kosten tragen.

Hamburg. In einem wegweisenden Verfahren hat das Hamburger Sozialgericht jetzt einer 72 Jahre alten leukämiekranken Frau recht gegeben, deren Krankenkasse die Rechnung für die kostspielige Behandlung nicht begleichen wollte. Die Richterin verurteilte die Kasse dazu, die 110.000 Euro teure Stammzelltransplantation zu bezahlen (Az.: S 35 KR 118/10). Die Behandlung hat der Hamburgerin vermutlich das Leben gerettet. Die Versicherung hatte die Übernahme der Kosten abgelehnt. Ihr Argument: Ohne eine klinische Studie verstoße diese Behandlung gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot.

Das Gericht folgte jedoch dem unabhängigen Gutachter, der meinte, die Stammzelltransplantation sei auch bei einer 72-Jährigen kein Experiment. Nicht das Alter, sondern der Allgemeinzustand sei für das Risiko bei der Behandlung ausschlaggebend. Bei einem Behandlungserfolg habe die Frau eine normale Lebenserwartung. Ohne wäre sie binnen eines Jahres gestorben, sagte der Experte vor Gericht.

Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) begrüßte den Richterspruch: "Das Urteil belegt, dass medizinische Entscheidungen im Regelfall individuell, unabhängig vom Alter getroffen werden müssen. Dabei muss im Vordergrund stehen, inwiefern die Behandlung den Patienten nutzt. Ausnahmen können höchstens Fälle bilden, in denen nachweislich wissenschaftlich belegt ist, dass eine Behandlung keinen Sinn macht."

Der Hamburger Medizinethik-Experte Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach (UKE) sagte dem Abendblatt, er halte generell eine Altersgrenze für medizinische Behandlungen für problematisch. Eine 72 Jahre alte Frau, die voll im Leben stehe, habe jedes Recht, therapiert zu werden. "Aber was medizinisch möglich ist, wird heute nicht allen zur Verfügung gestellt", kritisierte Schmiedebach. "Deshalb finde ich das Urteil beruhigend."

Eine Stammzelltransplantation ist eine klassische Methode zur Behandlung von bestimmten Formen der Leukämie. Dabei werden zunächst die bösartigen Blutzellen des Patienten durch eine Chemotherapie zerstört. Anschließend werden ihm gesunde Stammzellen eines Spenders (allogene Stammzelltransplantation) transplantiert und so die Funktion des Knochenmarks wiederhergestellt. Dafür müssen bestimmte Gewebemerkmale von Spender und Empfänger übereinstimmen.

UKE-Experte Schmiedebach sagte, der Fall werde eine Diskussion darüber auslösen, wie man mit den immer weiter eingeschränkten Ressourcen im Gesundheitswesen umgehen will. "Es wird vermutlich noch einige dieser Prozesse geben." Die Politik sei aufgefordert, ehrliche Antworten zu geben, was für wen noch bezahlt werden solle. Wie es der Patientin heute geht, ist unbekannt. An der mündlichen Verhandlung vor einigen Tagen hat sie nach Angaben des Gerichts teilgenommen.