Das Abstimmungsergebnis wird zeigen, ob die Grünen noch hinter ihrer schillernden Frontfrau stehen. Der Schock der Urwahl sitzt tief.

Hannover. Für Claudia Roth ist es ein Desaster. Gerade wurde die Grünen-Chefin in den Bundestag gewählt, jetzt muss sie den Vorsitz ihrer Partei abgeben. Es ist Dezember 2002, und die Delegierten weigern sich, die seinerzeit geltende Trennung von Amt und Abgeordnetenmandat zu lockern. Roth, erst anderthalb Jahre an der Spitze der Grünen, kann sich nicht wie geplant zur Wiederwahl stellen. Sie verliert ihr Chefinnen-Amt. Der Parteitag in Hannover vor zehn Jahren hat ihr einfach kein Glück gebracht.

Jetzt sitzt Roth wieder hier, in derselben Stadt, in derselben Halle sogar, die wie damals Eilenriedehalle heißt. Und wieder geht es um ihr politisches Schicksal. Seit 2004, als die Lockerung von Amt und Mandat doch von den Grünen gebilligt wurde, ist sie wieder eine der beiden Vorsitzenden der Partei. Keine war bisher länger in diesem Amt.

Doch nun hat Roth bei der Urwahl der Grünen das bekommen, was sie mit sichtbarer Enttäuschung im Gesicht selbst als "herbe Klatsche" bezeichnet. 15 Mitglieder hatten sich darum beworben, ihre Partei als Spitzenkandidaten in die Bundestagswahl 2013 zu führen. Zwei haben gewonnen: Fraktionschef Jürgen Trittin und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Beide lagen mit ihrer Stimmenzahl deutlich vor Roth, für die gerade mal ein Viertel der an der Wahl teilnehmenden Grünenmitglieder votiert hatte. Der Schock bei ihren Anhängern saß tief, selbst die, die sie nicht gewählt hatten, waren überrascht. Eine Parteichefin hätte mehr schaffen müssen.

Das weiß auch Roth. Nachdem das Ergebnis bekannt wurde, hat sie an Hinschmeißen gedacht, erzählen die, die sie näher kennen. Nach zwei Tagen Bedenkzeit hat sie sich aber zum Weitermachen entschieden, vor allem weil es aus der Partei so viel öffentlichen Zuspruch gab - nicht nur vom linken Flügel, deren Galionsfigur sie ist, sondern auch aus dem sonst eher kritischen Realo-Lager der Partei.

Richtig ernst wird es am Sonnabend, wenn sich Roth erneut als Grünen-Chefin wiederwählen lassen will. Öffentlicher Zuspruch ist dabei die eine Sache. Die andere ist, wie viele der rund 700 Delegierten sie tatsächlich auch noch als Parteivorsitzende haben wollen, wenn sie schon als Spitzenkandidatin für sie nicht die Richtige war. Nur wenige trauen sich deshalb, einen Wert zu nennen, die Roth erreichen müsste, damit sie nicht weiter beschädigt ist. Einer aus dem Norden wagt immerhin eine Prognose: Rasmus Andresen, Fraktionsvize im Schleswig-Holsteinischen Landtag, sagt im Gespräch mit dem Abendblatt: "Ich glaube, ihr Ergebnis wird eher in der Nähe der 90 Prozent als in der Nähe der 80 Prozent sein." Es gehe jetzt darum, ihr ein starkes Ergebnis zu verschaffen und klarzumachen, "dass die Urwahl keine Abwahl vom Bundesvorstand war".

Auch Roths Ko-Chef Cem Özdemir, der sich heute ebenfalls zur Wiederwahl stellt, anders als Roth aber nichts zu befürchten hat, trommelt bei seiner Eröffnungsrede in Hannover für seine Parteifreundin. "Claudia, ich finde es klasse, dass du kandidierst. Und ich bin mir sicher, die Delegierten werden es morgen auch so sehen." Da ist der Applaus der Grünen lang.

Selbst ein Ergebnis um die 80 Prozent wäre für Roth vergleichsweise respektabel. 2004 wurde sie mit 77,8 Prozent gewählt. 2006 waren es nur 66 Prozent, 2008 erreichte sie 82,7. Am 20. November 2010 in Freiburg, bei den letzten Bundesvorstandswahlen, wurde Roth mit 79,3 Prozent der Delegierten erneut bestätigt. Viel ist das nicht - zumal es keinen Gegenkandidaten gab.

Aber Claudia Roth polarisiert eben. Aus ihren Gefühlen macht sie keinen Hehl, wird energisch, wenn ihr etwas wichtig ist. Manche finden das nervig. Manche stören sich an diesem Schrillen, das sie umgibt, an der Stimme, den knalligen Kleidern. Sie weiß das natürlich - und zelebriert diesen Ruf auch. "Wer nervt mehr als Claudia?" hieß es auf Werbemotiven der Grünen mit Roths Foto, mit denen die Partei in diesem Frühjahr um mehr Mitglieder warb. Bei den Urwahlforen, bei denen sich die 15 potenziellen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl der Basis präsentiert hatten, war auch dieses eines ihrer Argumente: "Ich will weiter nerven."

Wenn Roth abseits des Rednerpults spricht, kommt sie schnell vom Hundertsten ins Tausendste, kann aber den roten Faden, den der Zuhörer längst verloren hat, irgendwann ganz routiniert wieder aufnehmen. Die gebürtige Augsburgerin, 57 Jahre alt, war Anfang der 80er-Jahre Managerin der Band Ton, Steine, Scherben, wurde später Pressesprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Europaabgeordnete, Bundestagsabgeordnete, Parteichefin, Abgeordnete, wieder Parteichefin. Ihre Schlappe bei der Urwahl, die ausgerechnet sie vorgeschlagen hatte, ist der Makel des sonst für die Partei so erfolgreichen Verfahrens.

Der Schleswig-Holsteiner Andresen sagt: "Dadurch, dass Claudia weitermacht, sind wir in der Breite gut aufgestellt." Vor allem für die Parteilinke ist sie wichtig, vor allem seit der Urwahl: Roths Ko-Vorsitzender Özdemir ist Realo, ebenso Göring-Eckardt und Fraktionschefin Renate Künast. Trittin, eigentlich ein Linker, gilt mittlerweile in erster Linie als staatsmännischer Pragmatiker. Zwar ist die Flügelarithmetik aus Wählersicht eher unwichtig - gerade für langjährige Parteimitglieder ist sie jedoch identitätsstiftend. Da passt es gut, dass die Grünen auf dem Parteitag an diesem Wochenende auch ihr sozialpolitisches Profil schärfen wollen. Eine wichtige Frage ist am Ende, wie weit links der neue Kurs sein wird. Zur Debatte steht etwa, mit höheren Steuern für Spitzenverdiener, einer Vermögensabgabe und einer Streichung klimaschädlicher Subventionen einen Spielraum von zwölf Milliarden Euro zu schaffen, um in Bildung, die Energiewende und soziale Sicherung zu investieren. Als wahrscheinlich gilt auch, dass die Delegierten sich einigen, eine Anhebung des Hartz-IV-Satzes von 374 auf 420 Euro zu fordern, wenn sie an die Regierung kommen sollten.