Ob Betreuungsgeld, Rentenreform oder Praxisgebühr - einzelne Abgeordnete der Regierungsfraktion sind weiterhin skeptisch.

Hamburg. Es gibt zwei Arten von Applaus am Ende dieses langen Kanzlerinnen-Tages. Den spontanen, vom Herzen kommenden, der immer dann aufbrandet, wenn es entweder sehr bodenständig zugeht in der Heidmarkhalle von Bad Fallingbostel. Oder wenn das Publikum glaubt, Angela Merkel könnte gleich doch noch ganz grundsätzlich werden in ihrer Ansprache. Wenn sie - quasi en passant - von der Freiheit spricht, von Europas Zusammenhalt, auch von Liebe, von der Familie, wenn sie konservative Werte benennt und so für einen Moment die wunde Seele der Partei touchiert.

Und es gibt den pflichtschuldigen Beifall, spartanisch, kurz, der fast widerwillig kommt. Der brandet gar nicht erst auf, der verstummt gleich wieder. Wenn Angela Merkel sich bemüht, die jüngsten Koalitionsbeschlüsse zu erläutern: das Betreuungsgeld, die Kleinrentenerhöhung. Die auf Wunsch der FDP abgeschaffte Praxisgebühr erwähnt sie noch nicht einmal. Aber es fragt auch niemand danach.

1800 mehr oder weniger bekennende Christdemokraten aus Niedersachsen und Bremen sind nach Bad Fallingbostel gekommen, wo die CDU eine von fünf Regionalkonferenzen abhält. Das ist ein ganz praktisches Format, das Angela Merkel für das Vorfeld von Parteitagen erfunden hatte, als sie noch nicht so unumstritten war und quasi unersetzbar für ihre CDU wie heutzutage.

Sie fühlte dort der Parteibasis regelmäßig den Puls und holte sich so die Rückendeckung der Mitglieder für die Erneuerung der Union. Es war reine Prophylaxe für den Kampf gegen ihre potenziellen Nachfolger. Die haben sich ja mittlerweile erledigt. Angela Merkel kämpft nicht mehr gegen parteiinterne Rivalen, sondern höchstens noch gegen ihre eigene Müdigkeit, gegen die ständige Terminhatz. Koalitionsgipfel bis zwei Uhr in der Nacht, CDU-Präsidium ab zehn Uhr morgens, dann schnell wieder weiter zur evangelischen Synode nach Timmendorfer Strand.

Man muss sich nicht wundern, dass Angela Merkel ein wenig mitgenommen wirkt auf dem Fallingbosteler Podium. Nur ganz selten rafft sie sich zu ihrem Schelmenlächeln auf - für die restlichen zweieinhalb Stunden muss der Routinemodus ausreichen, in dem sie immer ein bisschen muffelig aus ihrem obligatorischen Sakko schaut.

Am meisten Zeit nimmt sich die Bundeskanzlerin noch für das Betreuungsgeld, dessen Existenzberechtigung sie ganz im Duktus der CSU aus dem Recht der Eltern auf "Wahlfreiheit" ableitet. Ein Argumentationsstrang, der zur Abwehr eines imaginären Kita-Zwangs für alle gut geeignet wäre, zur Begründung einer neuen Transferzahlung aber nicht wirklich eingängig ist. Merkel lässt dann auch keinen Zweifel daran, dass das Betreuungsgeld für sie nicht Herzensangelegenheit, sondern eher eine den Koalitionsfrieden erhaltende Maßnahme ist: "Wir können das machen; ich sage aber nicht, wir müssen das machen."

So gespalten ist auch die Partei. Der Hamburger Landesvorsitzende Marcus Weinberg will im Bundestag nun zustimmen. "Es gibt durchaus wichtige positive Erweiterungen, so die Möglichkeit des Bildungssparens für das Kind oder der Erweiterung der Rentenansprüche für die Eltern. Ich hätte mir aber durchaus weitere Veränderungen, so einen Anspruch auf das Betreuungsgeld auch bei einem zeitweisen Besuch einer Krippe vorstellen können, die aber am Ende nicht durchsetzbar waren", sagte Weinberg dem Abendblatt. Man könne jetzt nicht die Eltern ignorieren, "die sich dafür entschieden haben, auf eine ergänzende Krippenbetreuung zu verzichten". Die Auswirkungen des Betreuungsgeldes werde man sich aber genau anschauen.

Weinbergs Hamburger Kollege Jürgen Klimke bleibt bei seiner Ablehnung, weil die Barauszahlung immer noch möglich sei. "Es bleiben soziale Fehlanreize", sagte Klimke der "Welt". Dennoch wird mit einer Mehrheit am Freitag nach der zweiten und dritten Lesung gerechnet. Das Gesetz sieht vor, dass Eltern, die ihre ein- und zweijährigen Kinder zu Hause betreuen wollen, vom 1. August 2013 an zunächst 100 Euro im Monat erhalten. Später sollen es 150 Euro monatlich sein. Die im Koalitionsausschuss beschlossene Bildungskomponente und die Alternative der privaten Altersvorsorge sollen in einem Begleitgesetz in erster Lesung ebenfalls am Freitag beraten werden. Dabei ist ungewiss, ob der Bundesrat diese Zusatzkomponenten bestätigen muss.

Der Fraktionsgeschäftsführer der Union, Michael Grosse-Brömer (CDU) wünscht sich ein "geschlossenes Auftreten". "Aber wenn es einzelne Kollegen gibt, die das nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, dann muss man mit denen reden."

Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper (FDP), sagte der "Berliner Zeitung", das Betreuungsgeld sein ein Salto rückwärts: "Das ist eine Rückkehr zum alten Familienmodell Kinder, Küche, Kirche."

Nach den Ankündigungen von SPD und Grünen hat auch die Linke mit einer Verfassungsklage gegen das Betreuungsgeld gedroht. Fraktionschef Gregor Gysi sagte: "Man soll sich nicht darauf verlassen, dass es sowieso eine andere Mehrheit im nächsten Bundestag gibt, die alles anders entscheiden wird." Nach Gysis Meinung verstößt das Betreuungsgeld gegen den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz. Er strebt eine Normenkontrollklage an.

Auch die geplante "Lebensleistungsrente" ruft im eigenen Lager Kritik hervor. Der Chef der Senioren-Union, Otto Wulff, befürchtet, dass die neue Leistung für Geringverdiener nicht ausreicht. "Ich hätte mir mehr gewünscht", sagte Wulff den Zeitungen der WAZ-Mediengruppe. Mit dieser Rente soll die Grundsicherung (durchschnittlich 690 Euro) um zehn bis 15 Euro im Monat erhöht werden. Voraussetzungen sind allerdings langjährige Beitragszahlungen und eine private Altersvorsorge. Wie viel von dieser Vorsorge auf die gesetzliche Rente angerechnet wird, ist noch offen. Nach Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) forderte auch sein Mecklenburger Amtskollege Erwin Sellering (SPD) erhebliche Nachbesserungen bei der Rente. "Die Beschlüsse von CDU, CSU und FDP gehen an der Lebenswirklichkeit insbesondere in Ostdeutschland vorbei. Die Regierungsparteien in Berlin übersehen das Problem der unterbrochenen Erwerbsbiografien", erklärte Sellering.

Viele Menschen im Osten seien nach 1990 unverschuldet arbeitslos geworden, manche sogar mehrfach. "Sie kommen nicht auf die 40 Beitragsjahre, die notwendig sind, damit die Rente von Geringverdienern aufgestockt wird. So lässt sich das Problem der drohenden Altersarmut nicht lösen."

Nach Einschätzung der Wirtschaftsweisen, die die Bundesregierung beraten, weisen die Beschlüsse der schwarz-gelben Koalition vom Sonntag ohnehin einen falschen Weg. Die Bundesregierung müsse "mehr Ehrgeiz bei der Konsolidierung" zeigen, heißt es in ihrem aktuellen Bericht, aus dem die "Rheinische Post" zitiert: "In die falsche Richtung gehen strukturelle Mehrausgaben wie das Betreuungsgeld, die Zuschussrente oder die Abschaffung der Praxisgebühr."