Pierre Boom ahnte nicht, dass seine Eltern DDR-Spione sind. Der Fall Guillaume spülte den Sohn zwischen die Fronten des Kalten Krieges und bestimmte sein Leben

Das Datum wird Pierre Boom immer präsent sein: 24. April 1974. Um halb sieben Uhr morgens klingelt es an der Haustür der Ubierstraße 107 in Bonn, BKA-Beamte fordern Einlass und verhaften das Ehepaar Guillaume. Auch die Großmutter Erna Boom wird festgenommen. Pierres Mutter weint, das alles "muss ein Irrtum sein", sagt sie noch. Ermittler stellen das Haus auf den Kopf, beschlagnahmen Papiere, Vaters Fotoausrüstung und den alten Kurzwellenempfänger. Sogar Pierres Musikkassetten - Deep Purple, Genesis, Pink Floyd - werden beschriftet und abtransportiert. Pierre ist 17 und kapiert gar nichts.

"Zuerst hab ich gedacht, es wäre irgendwas mit dem Kanzler passiert", sagt Pierre Boom und zündet sich eine Zigarette an. Die Szene in der Ubierstraße wirkt hier, 38 Jahre später in der Mittagssonne auf Sylt, eigenartig fern und vergangen, so wie eben jener Kanzler Willy Brandt, dessen Rücktritt Pierres Vater verursachte. Über dem Café in Rantum kreist eine Möwe, Booms Hund Duke schläft friedlich im Sonnenlicht. Die Verhaftung von Günter und Christel Guillaume war damals der Abschluss des größten Agentenkrimis, den Deutschland je erlebte. Aber für den Mann im dunkelgrauen Parka, der sich gerade einen Kaffee bestellt, war es der Bruch seines Lebens.

Boom ist ein lebhafter Erzähler. Ein Mann, der eine Milde ausstrahlt, etwas Grüblerisches. Seit acht Jahren lebt er auf Sylt, arbeitet als Redakteur für eine Inselzeitung, engagiert sich in einer Kulturinitiative. Ein guter Platz zum Leben, findet er. Aber wohl kein zufälliger. Weit weg jedenfalls von Ost-Berlin, wo er von 1975 bis 1988 lebte, und von Bonn oder Westberlin, wohin er danach ging. "Die Vorfahren meiner Mutter stammen ja aus den Niederlanden", sagt er, als sei das ein naheliegender Grund, sich im westlichsten Zipfel Deutschlands an der Nordsee niederzulassen. 2004 hat er seine Erinnerungen "Der fremde Vater" veröffentlicht, auch unter dem Namen Boom. Der ist wie ein Schutzschild. Niemand vermutet hinter "Boom" eine der bizarrsten Biografien, die der Kalte Krieg hervorgebracht hat.

Wie fühlt sich ein 17-Jähriger, der vom Kalten Krieg gehört, aber von dessen Realität keine Ahnung hat? "Ich habe damals einen der BKA-Beamten gefragt, was überhaupt los ist", sagt Boom. "Der war extra abgestellt worden, sich um mich zu kümmern. Natürlich mit dem Hintergedanken, dass ich vielleicht etwas sagen würde, denn vernommen werden durfte ich als Minderjähriger ja nicht ohne Beisein meiner Eltern." Etwas sagen? Während sich draußen die Nachrichten über den "Kanzlerspion" überschlagen, sitzt dessen Sohn mit einem Fremden in der Küche und hat selber nur Fragen. Was hatten die Eltern getan? Und warum?

Am 24. April 1974 endet, was Pierre bis dahin als unbeschwerte Kindheit empfand. Geboren 1957 in Frankfurt am Main, war er mit seinen Eltern 1971 nach Bonn gezogen, geht aufs Heinrich-Hertz-Gymnasium, will Abitur machen, hat eine feste Freundin. Erst aus den Medien erfährt er jetzt, dass die ganze gutbürgerliche Existenz der Familie auf einer Lüge basierte. Einer Legende, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in den 1950er-Jahren für Günter und Christel Guillaume gestrickt hatte. Schon den Tabakladen, den Oma Boom 1956 in Frankfurt/Main eröffnete, hatte das MfS mit 20 000 D-Mark finanziert, bevor sie Tochter und Schwiegersohn aus der DDR nachholte. "Ich denke, dass das MfS genau so eine Konstruktion gesucht hatte, um Agenten im Westen zu platzieren", sagt Boom.

Im Hause Guillaume gab es durchaus Diskussionen. Der Vater war in Hessen in die SPD eingetreten, hatte für Georg Leber Wahlkampf gemacht, war persönlicher Referent von Willy Brandt geworden. "Er argumentierte wie ein rechter Sozialdemokrat und hat sogar gegen die DDR gewettert", sagt Boom. "Mich selber hat Willy Brandt für die Politik begeistert, ich wäre zu den Jusos gegangen, um ihn zu unterstützen. Ich war für die Anerkennung der DDR, mein Vater strikt dagegen. Er hat seine Rolle bis ins enge Vater-Sohn-Verhältnis durchgehalten." Absurderweise packten die Guillaumes sogar Päckchen mit Schokolade und Kaffee für die "armen Verwandten drüben". Für Pierre, der nur wenige Male in der DDR war, "ein unbekanntes, dubioses Land: die gleiche Sprache, aber strenge Grenzkontrollen, alles seltsam heruntergekommen." Was sagten die Eltern dazu? "Die fanden auch, dass es schrecklich aussieht."

Im Sommer 1973 verbringt die Familie den legendären Norwegen-Urlaub mit den Brandts. Pierre ist 16, in der Mitte zwischen den Brandt-Söhnen Matthias, 14 ("der wollte mit mir immer nur Fußball spielen), und Lars, 18 ("der blieb eher für sich"). Rut Brandt findet er sehr sympathisch, den Kanzler sieht er kaum. Er ist stolz auf seinen Vater, weil der wichtig ist für Brandt.

Aber jetzt ist die Legende aufgeflogen. Pierre darf die Eltern in der Haftanstalt Köln-Ossendorf besuchen, immer nur in Gegenwart eines Vollzugsbeamten. "Das war grotesk", sagt Boom. "Ich brannte darauf zu erfahren, was sie gemacht hatten. Aber darüber durften sie nicht sprechen, sie hätten sich ja selbst belastet." Man redet also über Belangloses. Als Willy Brandt wegen der Affäre Guillaume zurücktritt, hatPierre zum ersten Mal das Gefühl, als würde ihm "der Boden unter den Füßen weggezogen". Der Spionagevorwurf ist wohl doch nicht nur ein vager Verdacht.

Vom langen Arm des MfS weiß Pierre noch nichts. Die Verteidigung der Eltern hat Rechtsanwalt Horst-Dieter Pötschke aus München übernommen (noch heute der "Anwalt der Spione"). DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf will seine Agenten in erfahrenen Händen wissen. Auch für den Sohn gibt es offenbar einen Plan, in dem Pötschke eine treibende Rolle spielt: Er rät Pierre, in die "Heimat der Eltern" überzusiedeln. "Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte", sagt Boom. "Finanziell wurde es eng zu Hause. Die Ernährer waren ja weg, die Konten eingefroren, und Omas Rente reichte nicht für uns beide. Ich bekam Angst, wie ich überhaupt Abitur machen sollte."

Das MfS hilft nach. Ein Herr Schumann von der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn redet Pierre gut zu: Er dürfe seine Eltern auch weiterhin besuchen, wenn er in der DDR lebe. Dort könne er in Ruhe das Abitur machen und studieren. Schließlich stimmt Pierre zu. Nach einem Camping-"Schnupperurlaub" mit seinem Schulfreund Victor auf dem Darß, betreut von drei jungen DDR-Bürgern, kehrt Pierre nicht mehr nach Bonn zurück. Erst 25 Jahre später, bei den Recherchen für sein Buch, hat er erfahren, dass Schumann und die "Betreuer" sämtlich MfS-Mitarbeiter waren.

Pierre ist mitten in der rebellischen Phase, geprägt von der westdeutschen Diskussionskultur der 70er. Die sucht er im Osten vergeblich. Schon der erste Schultag in Klasse 11 der Erweiterten Oberschule Immanuel Kant in Berlin-Lichtenberg beginnt befremdlich: mit einem DDR-Fahnenappell. Obwohl angeblich jeder im Klassenkampf steht - an der Schule, in der FDJ, in Betrieben -, redet keiner über Politik, fällt ihm auf. Sich selbstständige Gedanken zu machen, ist im Unterricht nicht gefragt. Es geht darum, die Lehrbuch-inhalte möglichst fehlerfrei wiederzugeben.

"Das ging alles schnell schief", sagt Boom. "Ich war bockig. Aufsässig. Merkte auch, dass man nicht ehrlich mit mir umging. Für manche war ich nur interessant wegen meiner West-Schallplattensammlung. 'Freunde' entpuppten sich als Stasi-Leute, und neue Freunde fand ich dort nicht. Manchmal hab ich mich gefragt: Was mache ich hier eigentlich?" Es gibt weder Nähe noch offen ausgetragene Reibung, natürlich auch mit den Eltern nicht, die im Dezember 1975 zu 13 und acht Jahren Gefängnis verurteilt werden. Alle drei Monate fährt Pierre mit der Bahn in den Westen, um sie zu sehen. "Ich sollte meine Eltern bei Laune halten", sagt Boom. "Denn es kam ja vor, dass Agenten in der Haft 'umgedreht' wurden." Aber die Gefängnisbesuche werden zum quälenden Leerlauf. Pierre fühlt sich als Spielball. Irgendwann sagt er seinem "Betreuer", er werde nach dem nächsten Westbesuch nicht in die DDR zurückkehren. Prompt werden weitere Besuche verhindert.

Im Rückblick ist das eine merkwürdige Jugend. Ein Taumeln zwischen zwei Welten, die zufällig auf derselben Kontinentalplatte liegen. Normalerweise will ein Sohn wissen, an welche Ideale die Eltern in jungen Jahren geglaubt haben, bevor er in seine eigenen Haltungen entwächst. Pierres Verhältnis zu den Eltern ist zwischen Zweifel und Idealisierung künstlich festgefroren. Wohin entwachsen? Pierre bricht die Schule und auch eine Lehre ab, jobbt als Hilfsarbeiter in einer Druckerei. Aus ihm hätte ein haltloser Bonzensohn werden können. Aber dann arbeitet er sich vom Fotolaboranten zum Foto-Assistenten und schließlich Fotografen bei der "Neuen Berliner Illustrierten" hoch. Erst über Umwege entdeckt er, was ihm wirklich liegt: der Fotojournalismus.

Sieben Jahre lang ist er allein mit allen Fragen, und als die Guillaumes 1981 endlich ausgetauscht werden, stellt er fest: Die Erklärungen, auf die er wartet, kommen nicht. "Ich war Mitte 20. Vielleicht war es schwierig für meine Eltern, in mir noch den Sohn zu sehen, den sie zurückgelassen hatten und der wissen wollte: Warum habt ihr das gemacht? Und habt ihr nicht daran gedacht, dass ihr ein Kind habt?" Der Vater sagt: "Warum willst du das wieder an die Oberfläche zerren? Ist doch alles gut gegangen." Die Mutter ist verbittert: Ihr Mann habe sie "von Anfang an betrogen". Sie lässt sich scheiden.

Die DDR hofiert Günter und Christel Guillaume. Sie haben schöne Häuser, Autos, Privilegien und natürlich "Betreuer". Das MfS umgibt die zerfallende Familie mit einer fürsorglichen Belagerung. Auto kaputt? Die Stasi-Werkstatt hilft. Weihnachten? Die Stasi bringt Präsentkörbe. Die "Betreuer" hintertragen den Eltern auch, was bei Pierre so los ist. "Nach außen war das MfS abgeschottet, aber nach innen der reinste Tratschverein", sagt Boom. Als Pierre seine Freundin Iris heiratet, lädt der Vater seine MfS-Kameraden ein - Freunde des Brautpaars müssen aus Gründen der "Konspiration" draußen bleiben.

Die Konfrontation kommt schnell. Während Günter Guillaume seiner früheren Bedeutung nachtrauert, hofft Pierre auf Reformen. Sie streiten über Gorbatschow. Pierre setzt auf ihn, der Vater pocht auf das System. Im Grunde wie in Bonn, als sie über Brandts Ostpolitik stritten.

Matthias Brandt hat 2011 in einem Interview von seiner "dysfunktionalen Familie", dem abwesenden Vater und den "Speichelleckern" erzählt, die er als Brandt-Sohn erlebte. Pierre Boom nickt. Mit der Beschreibung kann er sich identifizieren. Den mit sich selbst beschäftigten Vater kennt er ebenso wie die Claqueure, die sich um den "verdienten Kundschafter Guillaume" sammelten. Und mit Matthias Brandt teilt er die Last des Namens. "Guillaume" ist wie ein Scheinwerfer, der auf das Leben der anderen strahlt, das der Eltern, und den Sohn überblendet. "Bei 'Guillaume' wurden die einen sofort vorsichtig und hielten mich für regimefreundlich, andere klopften mir auf die Schultern: Toll, was dein Vater da gemacht hat! Man wird nie als man selbst gesehen."

Markus Wolf hat Pierre Guillaume später als "Problemfall" bezeichnet: "Mit dem hatten wir immer nur Scherereien." Dass 1988 ausgerechnet der Sohn des Topagenten einen Ausreiseantrag stellt, empfindet man im MfS als Skandal. Pierre hat inzwischen zwei Söhne, und der ältere, David, soll im nächsten Jahr eingeschult werden. "Ich dachte: Willst du deine Kinder in diese Indoktrinationsmaschine reingeben? Das kam nicht infrage." Pierre und Iris sind sich einig: Sie wollen raus. Wochenlang versucht die Stasi sie umzustimmen. Und hätte die Ausreise nie genehmigt, hätte Iris nicht vorgeschlagen, dass sie den Namen der Oma annehmen: Boom. Das MfS will unbedingt Aufsehen vermeiden. Nach der Namensänderung geht alles sehr schnell. Die Konspiration entlässt ihre Kinder.

Ein Jahr später fällt die Mauer. Es sind bewegte, spannende Jahre, in denen Boom im Westen einen Neuanfang schafft, in denen aber seine Ehe zu Bruch geht. Mit seinem Sohn David lebt Boom zeitweise wieder in Berlin und hat engeren Kontakt zu seiner Mutter, die - anders als der Vater - seine Ausreise unterstützt hat.

Es war eine Befreiung, sagt Boom. Die Befreiung von einer gelenkten Existenz, vom Schweigen des Vaters, von der Manipulation. Enttäuschung? Ist geblieben. Wut? "Natürlich war ich zwischendurch enorm wütend. Aber irgendwann habe ich mir gesagt: Ich muss mit den weißen Flecken eben fertig werden. Es muss ja weitergehen. Ich bin zu eigenständig und das Leben macht mir zu viel Spaß, als ewig zu hadern. "

Als er sein Buch schreibt, ist sein Sohn David 18 und interessiert sich brennend für die Geschichte. "Ihn hat erschüttert, dass er über die Affäre Guillaume an seiner Schöneberger Schule nie etwas hörte", sagt Boom. "Natürlich hat er mich gefragt, warum seine Großeltern das gemacht haben. Da konnte ich ihm nur sagen: Sie haben es mir nicht erzählt."