Hamburger Politiker Manuel Sarrazin pocht auf die Informationspflicht der Bundesregierung. Merkel halte sich nicht an Vorgaben.

Berlin. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 19. Juni dieses Jahres war deutlich: Der Bundestag muss über Maßnahmen der Euro-Rettung besser und vor allem rechtzeitig und schriftlich informiert werden. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle nannte die Rechtsprechung an diesem Tag einen "wichtigen Baustein" für die parlamentarische Verantwortung bei der europäischen Integration. "Die Unterrichtung muss dem Bundestag eine frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen", sagte er. Das Parlament dürfe nicht in eine bloß nachvollziehende Rolle geraten.

Bei den Grünen ist man jetzt der Ansicht, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Regierung sich nicht an die Vorgaben aus Karlsruhe halten. "Die Bundesregierung missachtet klar das Urteil des Bundesverfassungsgerichts", sagte der europapolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Manuel Sarrazin, dem Abendblatt. "Anders als von den Karlsruher Richtern gefordert, wird der Bundestag weiterhin nur unzureichend und verspätet über Maßnahmen zur Bewältigung der Euro-Krise informiert."

Grundlage der Kritik ist die aus seiner Sicht mangelhafte Information über Sitzungen des Wirtschafts- und Finanzausschusses (WFA) des Rates der EU. In dem Gremium werden derzeit brisante Sachverhalte verhandelt, etwa die geplante Bankenunion. Nach dem Euro-Urteil aus Karlsruhe gilt die Informationspflicht auch über die Aktivitäten des WFA, was auch der parlamentarische Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Steffen Kampeter (CDU), als Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen bestätigt: Es sei "eine schriftliche Berichterstattung über die Sitzungen des WFA erforderlich", wie es in dem Schreiben vom 9. Oktober heißt, das dem Abendblatt vorliegt.

Das Problem: Obwohl Sarrazin bereits ab Juli mehrfach schriftlich Informationen über WFA-Sitzungen angefordert hat, wurde den Parlamentariern erst Anfang Oktober ein knapp anderthalbseitiger Nachbericht der WFA-Sitzung vom 6. und 7. September übermittelt. Viel zu spät, wie Sarrazin argumentiert. Denn bereits am 14. und 15. September habe Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf Zypern bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus der Euro-Gruppe eine klare Position in der Debatte um die geplante Bankenunion bezogen. "Während des Gipfels konnte man überall in der Zeitung lesen: ,Schäuble bremst bei gemeinsamer Bankenaufsicht.' Wir Parlamentarier hätten von dieser Position vor dem Gipfel wissen müssen, um uns ein Bild zu machen und gegebenenfalls Einfluss auf die Haltung Deutschlands in dieser wichtigen Frage zu nehmen", betont Sarrazin. "Der Bundestag ist so seiner Informations- und Einflussrechte beraubt worden. Die Bundesregierung verletzt das Urteil aus Karlsruhe schon in den ersten Wochen, nachdem sie es kassiert hat, und führt ihre Hinterzimmerpolitik fort."

Zudem hält der Hamburger Abgeordnete die nachgereichten Angaben für unvollständig. So ist in dem Papier des Bundesfinanzministeriums, das dem Abendblatt vorliegt, zwar von einem ersten "Meinungsaustausch" zur gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht die Rede - nicht aber, was der Inhalt dieses Meinungsaustauschs gewesen ist. "Unter diesen Umständen ist es dem Bundestag nicht möglich, sich sowohl frühzeitig als auch effektiv eine Meinung zu bilden und Stellung zu beziehen", so Sarrazin.

Merkel hatte im Juni angekündigt, die Karlsruher Entscheidung werde künftig "Leitlinie" ihres Handelns sein. "Was das Urteil anbelangt, so werden wir das umsetzen", so die Kanzlerin. Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen hatten sich daraufhin in einem gemeinsamen Antrag dazu verpflichtet, das Urteil noch 2012 umzusetzen. Dazu soll das Gesetz, das die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag bei Angelegenheiten der EU regelt, entsprechend geändert werden. "Wir werden darauf drängen, dass darin auch klare Qualitätsanforderungen an die uns zu übermittelnden Informationen aufgenommen werden", so Sarrazin. Außerdem soll das Thema auf die Tagesordnung des Europaausschusses des Bundestages, der in der nächsten Woche tagt. Hier soll die Bundesregierung Stellung zu den Vorwürfen nehmen. "Aber auch darüber hinaus behalten wir uns weitere Schritte vor", kündigt Sarrazin an.

Das Bundesverfassungsgericht hat seit seinem Lissabon-Urteil 2009 immer wieder die zentrale Rolle des Bundestags und die demokratische Legitimation bei Schritten der europäischen Integration betont. Zuletzt hat es bei seiner Entscheidung zum dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM und dem Fiskalpakt im September 2012 die Beteiligung des Parlaments zur Voraussetzung gemacht.