Aus Weggefährten werden Kontrahenten. Peer Steinbrück will “mit 200 Prozent“ gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel kämpfen.

Berlin. Geduld ist eine Tugend, die die Politik nicht kennt. Sigmar Gabriel, der trotzig auf diese Tugend gesetzt hatte, ringt sich ein halbwegs freundliches Gesicht ab. Er tut alles auf der Bühne des Willy-Brandt-Hauses, um die vorgezogene Entscheidung der SPD-Kanzlerkandidatur mit Leichtigkeit und Humor zu verkaufen. Dabei handelt es sich um eine parteistrategische Panne ersten Ranges und eine persönliche Niederlage obendrein, dass er jetzt da oben stehen muss, an seiner Seite Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück, und nicht wie geplant Parteitermine in München absolviert.

Welcher Anlass konkret dazu geführt hat, dass alles sehr viel schneller gehen musste, darüber schweigt er sich aus. Zu diesem Zeitpunkt kursieren bereits Darstellungen, Steinmeier habe am Vorabend gegenüber Journalisten sehr deutlich seine Absage an die Kandidatur formuliert. Danach sei der Erklärungsdruck noch gestiegen.

"Nun kommt das Leben aber manchmal anders, als man es plant", setzt Gabriel an. "Sonst wäre es ja auch langweilig. Und langweilig, das darf ich Ihnen versichern, ist es in der SPD nie." Er spricht vom Wunsch "sehr vieler Meinungsträgerinnen und Meinungsträger" nach einer vorgezogenen Klärung der Kanzlerkandidatur, und das dürfe und könne einen SPD-Parteivorsitzenden nicht unbeeindruckt lassen. Gabriel erklärt, dass er selbst schon im Frühjahr 2011 entschieden habe, dass er als Parteichef nicht Kanzlerkandidat werden wolle, dass er dann in diesem Jahr vor der Sommerpause Steinmeier und Steinbrück gebeten habe, sich nach den Ferien zu äußern. Vor zwei Wochen habe Steinmeier seinen Verzicht erklärt und Steinbrück gleichzeitig seine Bereitschaft. Das entscheidende Treffen zwischen Gabriel und Steinbrück habe in Hannover stattgefunden. Er könne jetzt auch verstehen, dass Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier dem wachsenden öffentlichen Druck auf eine Erklärung von ihm nur noch mühsam standhalten konnte, setzt Gabriel fort. "Aus diesem Grund also die vorgezogene Nominierung." Eines zeige diese Nominierung aber auch: "In der SPD ist alles wie früher: Am Ende behält Helmut Schmidt immer recht."

Schmidts inzwischen berühmtes "Er kann es" liegt nun ein Jahr zurück. Seit der Altkanzler seinen Kandidaten benannt hatte, konnte Steinbrück nicht mehr vom Sockel des favorisierten Merkel-Herausforderers herabsteigen. Er wollte es auch gar nicht. "Ich nehme diese Herausforderung an", sagt der 65-Jährige, nachdem ihn Gabriel zum "besten Kanzler" für Deutschland ausgerufen hat. Steinbrück sagt dann das, was man erwartet: dass er diese Bundesregierung ablösen will, dabei 200 Prozent geben wird, und dass die jetzige Koalition durch Rot-Grün ersetzt werden soll. Als Vorbild als Wahlkämpfer nennt er Gerhard Schröder.

Auch Steinmeier, der 2009 gegen Kanzlerin Angela Merkel bitter verloren hatte, will etwas sagen. Er wirkt erleichtert, wird persönlich, spricht "Peer" direkt an: Er werde sich im Wahlkampf "so engagieren, als wär's mein eigener". Es sieht schön harmonisch aus, wie sie da oben stehen. Für einen Moment will man sogar glauben, dass dieser Tag für die SPD doch nicht der chaotischste seit langer Zeit ist.

Die Genossen setzen darauf, dass das Chaos schnell vergessen ist und dass die allgemeine Aufmerksamkeit dem Duell gehört, das so viel spannender zu werden verspricht als das vor vier Jahren: Es wird zur Auseinandersetzung zweier Hamburger kommen, die oft auf ihre norddeutsche Herkunft hinweisen und sie in ihrer mitunter schnoddrigen Kühle kaum verbergen können. Der Weg Merkels, die 1958 noch als Baby mit ihren Eltern von Hamburg nach Brandenburg übersiedelte, verlief nach der Wende weitaus geradliniger als der ihres Herausforderers: Ministerämter unter Kohl, dann Generalsekretärin der CDU, später Parteichefin, seit 2005 Kanzlerin.

Steinbrück, als Sohn eines Architekten groß geworden im Schrötteringksweg auf der Uhlenhorst, Schüler an der Volksschule am Winterhuder Weg und Abiturient am Wirtschaftsgymnasium Lämmermarkt, studierte in Kiel Volkswirtschaft. In der Bonner Ministerialbürokratie arbeitete er sich hoch, aber seinen ersten tatsächlich politischen Posten erhielt er erst mit 46 Jahren, als er schleswig-holsteinischer Wirtschaftsminister wurde. Später wechselte er nach Nordrhein-Westfalen, wurde Ministerpräsident, verlor 2005 die Wahl, wurde dafür unter Merkel Finanzminister. Sie kennen sich gut, in der ausbrechenden Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 arbeitete die Kanzlerin mit Steinbrück enger zusammen als mit allen anderen Kabinettskollegen. Gemeinsam gaben sie ihr Versprechen an die Deutschen ab, dass die Spareinlagen gesichert seien. In den schwarz-roten Zeiten passten sie gut zueinander, so gut sogar, dass beide in der steten Sehnsucht nach großkoalitionären Zeiten immer wieder als leuchtendes Beispiel klugen Regierens genannt werden.

Drei Jahre nach Beendigung dieser Episode hat Steinbrück keine Wahl: Er muss sich als schärfster Merkel-Kritiker positionieren. Mit seinem Papier zur Regulierung der Banken hat er einen Teil seiner Regierungsagenda bereits vorgestellt und dabei der Kanzlerin vorgeworfen, sie tue nichts, um den Finanzmärkten Einhalt zu gebieten. Steinbrück will Merkel zeigen, dass er mehr als sie verstanden hat. Auf dem Feld, so hoffen die Sozialdemokraten, könne Steinbrück der Regierungschefin wirklich gefährlich werden. Der Kandidat wird sich zuerst an seine neue Rolle gewöhnen müssen. Mit seinem Hang zu rhetorischen Schnellschüssen ("Steinbrück schließt nicht aus, dass er Hundefutter isst"), politischen Alleingängen (der Schweiz drohte er mit der Kavallerie) und provokativen Abgrenzungen zur eigenen Partei ("Heulsusen") kann er auch sich selbst gefährlich werden.

Die nun offiziell herausgeforderte Kanzlerin lässt an diesem denkwürdigen Freitag lieber ihren Regierungssprecher Steffen Seibert ausrichten, sie habe "überhaupt keine Vorlieben" für einen bestimmten Kanzlerkandidaten der SPD. Seibert erwähnt auch, dass die Kanzlerin mit Steinbrück sehr eng zusammengearbeitet habe. Die CDU-Chefin hätte sicher nichts dagegen, an diese Arbeit anzuknüpfen. Doch Steinbrück hatte schon vor seiner Kür zum Kandidaten einen Kabinettsposten unter Merkel ausgeschlossen. Der Ex-Finanzminister will siegen, sonst nichts. Vizekanzler zu sein will er sich nicht antun. Am Wahltag wird er 66 Jahre alt sein. Auch bei einer drohenden Niederlage weiß er: Verlieren kann er nicht.

Am Montag wird er in einer Sondersitzung des Parteivorstands nominiert. Am 9. Dezember soll die offizielle Kür in Hannover erfolgen. Der SPD-Vorstand muss nun fix entscheiden, wie die umstrittene Absenkung des Rentenniveaus von 50 auf 43 Prozent verhindert werden kann. Es ist das letzte offene Streitthema der Partei. Steinbrück sagt dazu: "Es bahnt sich eine Lösung an, mit der jeder wird leben können." Es fällt auf, dass er bei dem Thema schon jetzt das letzte Wort hat.