Berlin. Mehr als zwei Abendstunden sind im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums vergangen, als der Festakt seinem Höhepunkt zuläuft. Der letzte Redner des Abends ist der Geehrte selbst. Helmut Kohl blickt vom Podium in den Saal. Ministerpräsidenten, Minister, frühere Weggefährten, Diplomaten, Freunde, sie sind alle gekommen, um sein Lebenswerk zu würdigen. Anlass ist der 30. Jahrestag seiner ersten Kanzlerschaft. Kohl, im Rollstuhl sitzend, spricht ohne Manuskript.
Manche Sätze kann man nur schwer verstehen. Aber seine Botschaften kommen an. "Ich weiß nicht, was der liebe Gott mit mir vorhat", sagt Kohl. "Es war eine fantastische Zeit." Manches, was der 82-Jährige sagt, klingt wie ein Abschied von der öffentlichen Bühne. Er dankt den Rednern des Abends, den Staatsmännern, die in Videobotschaften ihre Erinnerungen an Kohl ausführten. Er dankt all denen, die ihn "provoziert und herausgefordert" haben. Und er spricht über sein Lebensthema Europa. Der Kontinent dürfe nie wieder im Krieg versinken, warnt er. Die großen Ziele müssten ein friedliches Europa und ein friedliches transatlantisches Bündnis sein.
Die Gäste erheben sich, sie feiern den Kanzler der Einheit. In allem, was dieser Abend ausdrücken soll, schwingt die Geste der Versöhnung mit dem früheren Ehrenvorsitzenden der Christdemokraten. Es ist die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung, die den Abend als Gastgeber veranstaltet. Kohl soll sich also als Gast in seiner politischen Heimat fühlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hilft dabei, das Eis zu brechen. In ihrer Festrede schildert sie ihren politischen Ziehvater als einen neugierigen, mutigen Menschen, der immer die Wahrheit ins Gesicht gesagt bekommen wollte. Sie erinnert die Worte von Franz Josef Strauß, der prophezeit hatte, dass Kohl niemals Kanzler werde. Und sie sagt, zum Glück sei es anders gekommen.
Der 1. Oktober 1982, der Beginn der 16 Jahre währenden Ära Kohl, war zugleich der letzte Tag Helmut Schmidts als Regierungschef, nachdem Union und FDP ihn per Misstrauensvotum gestürzt hatten. Tiefe Bewunderung und schroffe Ablehnung begleiteten Kohl durch diese Jahre, an ihm schieden sich die Geister. Merkel deutet dies in ihrer Rede an. Als Kohl 1991 die noch recht unerfahrene Familienministerin aus Ostdeutschland gefragt habe, was denn ihre Freunde über ihn dächten, habe sie zugeben müssen, dass manche ihrer Bekannten noch dabei wären, sich an ihn zu gewöhnen. Doch Merkel erzählt auch, wie sie Mitte der 80er-Jahre Kohl im Fernsehen gesehen habe und wie sein damals geäußerter Wunsch der deutschen Einheit den Menschen in der DDR Kraft gegeben habe. Damals sei die Einheit in weiter Ferne gewesen. Später habe Kohl die Zeichen der Zeit erkannt und habe Geschichte geschrieben.
Einer, der an diesem Abend schweigt, sogar einige Minuten zu spät erscheint, aber bei der Begrüßung mit sehr langem Beifall bedacht wird, ist Wolfgang Schäuble. Auch Kohl klatscht, als dessen Name erwähnt wird. Merkel hatte den Finanzminister und langjährigen Weggefährten Kohls erst am Vortag anlässlich seines 70. Geburtstags gewürdigt. Kohl war nicht gekommen, aber dass Schäuble nun da ist, darf man zumindest als einseitiges Signal der Verständigung deuten.
Am Dienstag, als die Unionsfraktion den ehemaligen CDU-Vorsitzenden anlässlich des 30. Jubiläums seiner Kanzlerwahl mit einem Empfang würdigte, fehlte Schäuble noch. Nun sitzt er in der ersten Reihe, aber zu weit entfernt für Blickkontakte. Viele aus der Fraktion, die Kohl am Dienstag schon erlebten, sind wieder dabei. Und manch Abgeordneter, der ihn aus gemeinsamen politischen Zeiten kannte und ihn nun zehn Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag wieder aus der Nähe erlebte, war bereits nach dem ersten Wiedersehen mit dem CDU-Übervater berührt. So beschrieb der nordfriesische CDU-Parlamentarier Ingbert Liebing in einer Mitteilung, wie er am Dienstag seine kurze Begegnung mit Kohl erlebt hatte: "Das Reden fiel ihm schwer, er rang mit jedem Wort. Es fällt nicht leicht, diesen großen Deutschen und Europäer von seiner Krankheit so schwer gezeichnet zu sehen." Andere Teilnehmer der Sitzung hatten Ähnliches geschildert.
Gemeinsam ist den CDU-Politikern der heutigen Generation, dass sie gegenüber Kohl tief verunsichert sind. Zur großen Bewunderung kommt Mitleid hinzu. Aber ist Mitleid mit diesem Mann, der in seinen Ämtern alles erreichte, über den möglicherweise noch in späteren Jahrhunderten gesprochen wird, ein angemessenes Gefühl?
Auch an einem Abend wie dem gestrigen, an dem die Union ihren großen Kanzler feiert, bleibt die Partei emotional gespalten. Es ist nicht vergessen, dass Kohl im Januar 2000 den CDU-Ehrenvorsitz abgeben musste. Es ist nicht vergessen, dass Kohl seinem eigenen Ehrenwort gegenüber anonymen Parteispendern ein höheres Gewicht zusprach als dem Rechtssystem dieses Staates. Die Spendernamen sind bis heute nicht bekannt. Es ist dieser Vorgang, der die vollständige Rehabilitierung Kohls in der CDU verhindert. Was nützen 25 Jahre Parteichef, wenn zugleich diese Jahre dazu führten, ein System aus schwarzen Spendenkassen und dubiosen Transaktionen an Parteigliederungen gegen das Parteiengesetz aufzubauen? Die CDU würde ihren Kohl gern verehren, und zugleich muss sie es sich ein Stück weit verbieten.
Juristisch ist die Angelegenheit um die Parteispenden längst begraben. Das Verfahren gegen Kohl wurde gegen die Zahlung eines Bußgeldes von damals 300 000 Mark eingestellt. All das ist an diesem Abend kein Thema. Die CDU will Kohl lieber als Vater der Einheit in Erinnerung behalten. Als solchen wird er nun auch mit einer Briefmarke geehrt. Im Oktober kommt sie auf den Markt - in einer Millionenauflage.
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