Nach dem Kölner Beschneidungsurteil kocht die Diskussion so hoch wie nie: Zwischen Identität, Verletzung, Toleranz und Hygiene.

Die ganze Diskussion", sagt der Hamburger Landesrabbiner Shlomo Bistritzky, "hat teilweise schon abseitige Züge angenommen." Deutsche Rabbiner wie zum Beispiel Henry Brandt, der Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland, oder Jonah Sievers, der Landesrabbiner von Niedersachsen, haben nach dem Kölner Urteil zur Beschneidung giftige E-Mails erhalten. Da war von "grausamen archaischen Ritualen" die Rede und von Parallelen zur Genitalverstümmelung bei Mädchen. "Mein Eindruck ist, das Thema ist für manche eine tolle Gelegenheit, ihren Antijudaismus zu verbreiten", sagt Sievers.

Kaum ein Urteil hat so hohe Wogen geschlagen wie jenes "Kölner Beschneidungsurteil". Das Landgericht Köln hatte im Mai einen muslimischen Arzt, der auf Wunsch muslimischer Eltern einen Vierjährigen beschnitten hatte, vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen. Aber der Sprengsatz lag in der Urteilsbegründung. Das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung habe keinen Vorrang vor dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung, steht da. Vom elterlichen Sorgerecht seien "nur Erziehungsmaßnahmen gedeckt, die dem Wohl des Kindes dienen". Dazu gehöre eine Beschneidung ohne medizinische Indikation nicht. Nach dem Urteil hatten viele Mediziner in Deutschland keine Beschneidungen mehr vorgenommen.

"Es ist gut, wenn es jetzt ein neues Gesetz und damit wieder Rechtssicherheit geben wird", sagt der Hamburger Chirurg Dr. Walter Feldheim, der in seiner Praxis in Winterhude auch Beschneidungen vornimmt. "Der Eingriff an sich ist medizinisch völlig unproblematisch, wir führen ihn ja auch durch, wenn Kinder oder Jugendliche unter einer Phimose (Vorhautverengung) leiden. Es geht jetzt wirklich nur um Beschneidungen aus religiösen Gründen."

Und die war immer schon ein Streitpunkt, sagt der Rabbiner Henry Brandt. "Sie war zum Beispiel einer der Hauptdiskussionspunkte im frühen Christentum, als der Apostel Paulus sie für Nichtjuden aussetzen wollte, während die Jünger in Jerusalem sie beibehalten wollten." Auch bei jüdischen Reformbestrebungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde sie heftig diskutiert.

"Die Brit Mila (Beschneidung) ist ein Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk", sagt Brandt, "eine Vorschrift der 613 Ge- und Verbote der Tora: Der Sohn ist am achten Tag nach der Geburt zu beschneiden, soweit es seine Gesundheit erlaubt." Kranke Kinder oder Frühchen würden selbstverständlich nicht oder später beschnitten. Die liberalen jüdischen Gemeinden in Deutschland betrachteten die Tora-Gebote nicht als eherne Gesetze, sondern "wir interpretieren sie als ein fortschreitendes System. Aber gerade die Beschneidung wird nicht in Zweifel gezogen. Sogar die meisten säkular eingestellten jüdischen Eltern halten daran fest."

Im Islam sei die Beschneidung "keine Pflicht nach dem Koran", sagt Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin und Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes. "Aber die große Mehrheit der Muslime sieht sie als eine dringende Empfehlung, die der Prophet Mohammed auferlegt hat."

In arabischen Ländern wird sie meist im Kleinkindalter vollzogen, in der Türkei im Alter von sieben oder acht Jahren, wobei die kleinen Jungen wie kleine Prinzen eingekleidet werden und die Familie das Ritual kräftig feiert.

Unter jungen Muslimen in Deutschland sei die Beschneidung gerade identitätsstiftend, meint Kaddor: "Ein 13-Jähriger empfindet es als sehr peinlich, wenn in seiner Peer-Group herauskommt, dass er noch nicht beschnitten ist. Für ihn gehört die Beschneidung zum Erwachsenwerden, er hat dann das Gefühl: Jetzt bin ich ein Mann. Das ist ein Aspekt, der mir in der Diskussion viel zu kurz kommt: Es geht nicht nur um medizinische Aspekte, sondern um Identität. Und ich möchte nicht, dass der Staat mir im Einzelnen vorschreibt, wie ich meine Religion ausüben darf."

Dabei ist sich Lamya Kaddor durchaus bewusst, dass die Beschneidung schon lange vor dem Kölner Urteil kontrovers diskutiert worden ist. Die Zahl vor allem jüngerer Muslime und Juden, die die Beschneidung kritisch hinterfragen, wächst.

"Brit Shalom" heißt beispielsweise eine Namensgebungszeremonie, die im liberalen Judentum Kaliforniens entstand - als Alternative zur "Brit Mila". Inzwischen wird sie unter anderem auch in weiteren US-Staaten, in Kanada, Großbritannien, Mexiko, Ungarn und in Deutschland praktiziert. Als Jude habe er die Beschneidung immer für eine Selbstverständlichkeit gehalten, schreibt einer der Initiatoren, Mark D. Reiss. "Erst als Großvater habe ich mich genauer damit befasst und erfahren, dass immer mehr Ärzte glauben, dass die Risiken die möglichen Vorteile weit überwiegen." Unter dem Titel "Unsere seltsame Tradition" schrieb der Autor Gil Yaron kürzlich in der "FAZ", es habe in der Geschichte des Volkes Israel Zeiten gegeben, in denen die Söhne nicht beschnitten werden konnten. Der Umgang mit der Vorhaut definiere also nicht die Bindung zu Gott. Er werde seinen Sohn erst beschneiden lassen, wenn der es "als mündiger, überzeugter Jude" selbst wolle, schreibt Yaron.

Der "Spiegel"-Korrespondent in Pakistan, Haznain Kazim, kam mit seinen pakistanischen Eltern in den 1960er-Jahren nach Deutschland und wuchs im norddeutschen Twielenfleth auf. Dass er im Alter von acht Jahren beschnitten wurde, verdanke er nur dem Drängen einer strenggläubigen Tante aus Pakistan, berichtet er. Es sei für ihn "die Hölle" gewesen. "Ich habe nichts gegen die Beschneidung. Es ist der weltweit häufigste chirurgische Eingriff, außerdem eine Tradition, die Muslimen und Juden wichtig ist. Aber bitte nur bei Säuglingen, nicht bei Achtjährigen", schreibt Kazim. Er selbst lasse seinen Sohn nicht beschneiden, "solange es keine medizinischen Gründe dafür gibt".

Wer solche medizinischen Gründe sucht, trifft auf eine Fülle sich widersprechender Studien. Mal wurde die Beschneidung aus hygienischen Gründen für ratsam erklärt, mal aus vorsorgemedizinischen, etwa als besseren Schutz gegen Geschlechtskrankheiten oder Aids, und mal aus sittlichen Gründen - zur Vermeidung sexueller Ausschweifungen. Ebenso umfangreich ist die Zahl von Studien, die vor den Risiken warnen.

"Ich wäre bei vielen Ergebnissen sehr vorsichtig", sagt der Chirurg Feldheim. "Eine routinemäßige Beschneidung kleiner Jungen, etwa aus hygienischen Gründen, halte ich für unsinnig."

In den USA wurden solche Routinebeschneidungen während des Zweiten Weltkriegs an Soldaten durchgeführt, die in Afrika stationiert waren. Der Zweck: die Vermeidung von Geschlechtskrankheiten. Überhaupt wird immer wieder auf die völlig problemlose Akzeptanz von Zirkumzisionen - der Entfernung der Vorhaut durch einen Rundschnitt - in den USA hingewiesen. Aber die Zahl der Beschneidungen an Neugeborenen in US-Kliniken hat sich nach Angaben der amerikanischen Behörde für Gesundheitsstatistik CDC in den vergangenen 30 Jahren halbiert: von 65 Prozent im Jahr 1980 auf 32,5 Prozent 2009.

In Großbritannien lag die Beschneidungsrate in der oberen anglikanischen und katholischen Mittelschicht 1945 noch bei 95 Prozent. Inzwischen ist sie auf 0,5 Prozent gesunken. Gegen Beschneidungen ohne medizinische Indikation wenden sich Ärztevereinigungen in den Niederlanden, Großbritannien und Kanada, in Finnland war es 1999 das Parlament. In Schweden sind sie seit 2001 nur unter Auflagen erlaubt, die dem jetzigen Gesetzentwurf des deutschen Justizministeriums ähneln. Vor diesem Hintergrund spiegelt das Kölner Urteil nur einen weit verbreiteten Vorbehalt wider.

Harsche Kritik kommt von psychotherapeutischer Seite. Im Juli erst warnte der Vizedirektor des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, Prof. Matthias Franz: "Die Entfernung der Vorhaut im Säuglings- oder Kindesalter stellt ein Trauma dar und kann zu dauerhaften körperlichen, sexuellen oder psychischen Leidenszuständen führen." Ein kleiner Junge werde dabei "mit hypermaskulinen Attributen und großen Geschenken zum Mann erklärt, eigentlich aber von Erwachsenen manipuliert", schreibt Franz, vor allem mit Blick auf die Beschneidungsfeiern in muslimischen Familien.

Dr. Antje Yael Deusel, Bayerns erste Rabbinerin und Oberärztin in der Klinik für Urologie und Kinderurologie in Bamberg, widerspricht. "Die Brit Mila ist keine Erziehungsmaßnahme, keine Strafe und auch keine Verstümmelung", sagt sie. "Wir wollen unsere Kinder ja nicht versehren und verletzen. Wir wollen ihnen etwas Gutes tun.

Die Beschneidung hat in gesundheitlicher Hinsicht klare Vorteile. Wir führen sie in unserer Klinik immer mit Betäubung durch. Und das Recht des Kindes schließt auch ein Recht am Teilhaben an einer religiösen Gemeinschaft ein. Würde es sich - auch aus psychologischer Sicht - denn nicht sonst ausgeschlossen fühlen?"

Sie sehe bei vielen Argumenten der Beschneidungsgegner "im Hintergrund ein tiefes Misstrauen allem Religiösen gegenüber", sagt die Ärztin und Rabbinerin. "Hier wird anstelle einer Religionsfreiheit eine Freiheit von Religion gefordert. Dabei verliert kein Junge, der beschnitten ist, damit seine Wahlfreiheit, ob er später Jude, Christ, Moslem oder Hindu sein will."

Die Debatte, sagt der Rabbiner Henry Brandt, sei auch eine "Folge der Säkularisierung, sie zeigt eine Ablehnung des Unbekannten, die Angst vor religiöser Radikalisierung. Aber viele vergessen, dass Milliarden Menschen beschnitten sind, dass es eine jahrtausendealte Tradition ist, die man nicht einfach kriminalisieren kann. Es ist die Pflicht der Eltern, ihre Kinder in der Religion zu orientieren, genauso wie sie zur Schule zu schicken oder sie impfen zu lassen." Er begrüße, dass der neue Gesetzentwurf Rechtssicherheit schaffen solle. "Über die einzelnen Bestimmungen wird noch gesprochen werden. Aber ich bin sicher, dass sie annehmbar sein werden."

In den USA hat das Urteil made in Germany für Kopfschütteln gesorgt. Der bekannte Blogger und Außenpolitik-Experte Russell Mead - ein Protestant - warnte spitzzüngig, es werde "im Grunde unmöglich gemacht, im Reich ein Jude zu sein". Er schrieb aber auch einen sehr bedenkenswerten Satz: "Toleranz bedeutet nicht nur, dass man Leuten erlaubt, Dinge zu tun, die man selbst mag. Sie bedeutet auch, ihnen Dinge zu erlauben, die man nicht mag, wenn diese Dinge für ihre Identität und Weltsicht zentral sind."