Parteichef Gabriel kann Parteivorstand mit seinem Konzept überzeugen - bis auf eine Ausnahme: Rentenniveau wird zum Stresstest.

Berlin. Manchmal muss ein Politiker die Verkäufernatur in sich wecken. Wenn er selbst weiß, dass sein Produkt Macken aufweist und der Kunde skeptisch werden könnte, dann benötigt der Politverkäufer vor allem rhetorisches Können. Als Sigmar Gabriel gestern sein Produkt namens Rentenkonzept im Willy-Brandt-Haus vorstellte, wusste auch er, dass seine Partei an manchen Stellen noch kräftig streiten und nachbessern wird. Aber Gabriel wollte unbedingt Gutes verkünden: So werde die sogenannte Solidarrente von monatlich 850 Euro für Arbeitnehmer mit mindestens 30 Beitrags- und 40 Versicherungsjahren zu drei Vierteln Frauen zugute kommen, die sich sonst im Alter mit Minirenten auf Hartz-IV-Niveau begnügen müssten, sagte er. Außerdem hätten Union und FDP gar kein Rentenkonzept, und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen sei mit ihrer Zuschussrente von Bundeskanzlerin Angela Merkel ja zurückgepfiffen worden.

Man hätte Gabriels Werbebotschaften auch vereinfacht übersetzen können: Weil die Bundesregierung in Sachen Rente überhaupt nichts zu bieten hat, ist das SPD-Konzept schon mal besser als nichts. Die Macken seines Produkts wollte der Parteichef allerdings nur am Rande zu Protokoll geben: Der SPD-Vorstand beschloss zwar mit großer Mehrheit bei lediglich zwei Gegenstimmen und einer Enthaltung Gabriels Konzept. Aber der Streit um das zukünftige Rentenniveau wurde vertagt. Er soll endgültig am 24. November beigelegt werden, wenn sich die SPD zum Parteikonvent - einer Art kleinem Parteitag - treffen will. Seit Wochen kursiert zudem die Vermutung, am selben Tag könne die SPD erfahren, wer ihr Kanzlerkandidat werden soll. Während Gabriel weiter eine Absenkung des Rentenniveaus von derzeit 51 Prozent auf 43 Prozent bis 2030 befürwortet, lehnt die Parteilinke ein Absenken unter 50 Prozent rigoros ab. Gabriels prominentester Gegner ist in diesem Fall Arbeitnehmervertreter Ottmar Schreiner, der seit Tagen Stimmung gegen diesen einen Aspekt macht. Am Montagmorgen sagte er, dass das Konzept dazu führe, dass sich auch die Renten von mittleren Einkommen der Armutszone näherten.

Auch die Parlamentarische Linke in der SPD-Bundestagsfraktion, angeführt vom Pinneberger Abgeordneten Ernst Dieter Rossmann, gibt sich mit Gabriels 43-Prozent-Vorschlag nicht zufrieden. "Ich finde es klug, dass wir die Debatte um das zukünftige Rentenniveau jetzt weiterführen", sagte Rossmann dem Abendblatt. Er schlug vor, dass die SPD zwischen 43 und 51 Prozent einen Korridor für das Rentenniveau festlegen sollte. "Wir würden damit rentenpolitische Kompetenz zeigen. Wenn wir uns auf eine Zahl festlegen, müssen wir sie womöglich schon bald wieder revidieren", warnte er. Das Rentensicherungsniveau hänge von sehr vielen Faktoren wie der wirtschaftlichen Entwicklung, des Beschäftigungs- und Einkommensniveaus und den Sozialversicherungsbeiträgen ab. Rossmann appelliert an seine Partei, sich über das Thema nicht zu zerstreiten. Doch neben der Rente mit 67, dem Dauerkonflikt in der Partei, entwickelt sich das Rentenniveau wohl doch zum herbstlichen Stresstest der SPD. Dass beide Punkte derart umstritten sind, verwundert kaum: Sie gehören mit zu den wichtigsten Beschlüssen der Großen Koalition von 2005 bis 2009. Federführender Sozialdemokrat war damals Arbeitsminister Franz Müntefering. Um den früheren Parteichef geht es bei dem Konflikt schon längst nicht mehr, vielmehr um die Ausgangslage, die die Partei ihrem Kanzlerkandidaten für 2013 verschaffen will.

Die Sozialdemokraten wissen, dass etwa Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier als Kandidat wohl kaum zur Verfügung stünde, sollte die Partei versuchen, sich selbst gegenüber 2009 mehrfach links überholen. Ohne Kompromisse kam Gabriel aber auch bei der Rente mit 67 nicht davon: Schon vor der Vorstandssitzung hatte er auf Druck des linken Flügels hierbei Korrekturen vornehmen müssen. Nun sollen Arbeitnehmer mit 45 Versicherungsjahren mit dem 65. Geburtstag ohne Einbußen in Rente gehen können. Bislang ist das nur nach 45 Beitragsjahren möglich. So sollen rund 200 000 Beschäftige mehr als im jetzigen System profitieren. Bei den Versicherungsjahren werden anders als bei den Beitragsjahren auch beispielsweise Kindererziehungszeiten angerechnet.

Gleichzeitig soll die betriebliche Altersversorgung massiv ausgebaut werden. Als zweite Stufe neben der Rentenversicherung soll sie weitgehend die Riester-Rente ersetzen. Geplant ist eine "Betriebsrente Plus", in der jeder Arbeitnehmer, falls er nicht ausdrücklich widerspricht, zwei Prozent seines Bruttolohns einzahlt. Der Staat soll diesen Sockelbetrag mit 400 Euro im Jahr fördern. Auch die Unternehmen sollen sich beteiligen. Die Rentenbeitragssätze sollen von 2014 bis 2029 um durchschnittlich 0,4 Prozent höher steigen als bislang geplant. Das von der Rentenversicherung avisierte Beitragsniveau von 22 Prozent bis 2029 soll dabei nicht übertroffen werden.

In diesen Punkten herrschte Einigkeit im Parteivorstand, der gestern mehr als drei Stunden das Konzept diskutierte. Doch außer Gabriel selbst stiegen weder Steinmeier noch Hamburgs Bürgermeister und Ex-Arbeitsminister Olaf Scholz in den Ring, um das Konzept öffentlich zu verteidigen. Während sich Gabriel nach der Vorstandssitzung dem Startschuss für den SPD-Bürgerdialog aufs Projekt Wählergewinnung konzentrierte, erhielt Peer Steinbrück einmal mehr Rückenwind in der Frage der Kanzlerkandidatur. Der Kieler FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki setzte sich stark für ihn ein, als er eine weitere Steinbrück-Biografie in Berlin vorstellte. "Ich würde nicht mit jedem Sozi regieren", sagte Kubicki, der zuvor schon eine Ampel-Koalition ins Spiel gebracht hatte. "Ich glaube, dass Peer Steinbrück Kanzler kann." Am Ende werde es im Kandidatenkarussell auf den Ex-Finanzminister hinauslaufen. Schließlich sei der 65-Jährige die einzige Möglichkeit der SPD, mit dem "Kompetenzvorsprung" von Amtsinhaberin Angela Merkel fertig zu werden.