In der Politik fühlt er sich zunehmend einsam. Wolfgang Schäuble sitzt seit 1972 im Bundestag. Keiner hat länger durchgehalten. Ein Porträt.

Was für ein furchtbarer, verzweifelter Satz: "Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?" Herausgeschleudert von einem, der sich seiner körperlichen Autonomie beraubt sah, furchtbar auch für die, die ihn sich anhören mussten. Damals, nach dem 12. Oktober 1990, an dem das zweite Leben des Wolfgang Schäuble begann. Ein Leben, von dem er heute sagt, dass es nicht schlechter sei als das erste Leben, außerhalb des Rollstuhls. "Es ist sicherlich völlig anders. Aber man ist nicht weniger unglücklich oder zufrieden. Man ist mehr auf sich selber zurückgeworfen. Die Zufriedenheit der Menschen hängt ja von den äußeren Lebensumständen ziemlich wenig ab. Das sind meist andere Faktoren, die das bestimmen."

Heute wird Wolfgang Schäuble 70 Jahre alt. Er ist, und das hätte er nach dem Attentat in seinen kühnsten Träumen nicht zu denken gewagt, wieder der wichtigste Minister im Bundeskabinett. Der Freiburger, der als Innenminister nicht nur Helmut Kohls engster Vertrauter, sondern auch dessen strategischer Vordenker gewesen ist, bekämpft jetzt als Bundesfinanzminister mit Angela Merkel die Euro-Krise.

Dabei schien am 12. Oktober 1990 alles zu Ende.

An jenem Freitag macht Wolfgang Schäuble Wahlkampf in Oppenau, einem kleinen Luftkurort im badischen Renchtal. Die beschauliche 5000-Seelen-Gemeinde im Schwarzwald gehört zum Wahlkreis des Ministers, Schäuble absolviert diesen Auftritt - am 2. Dezember stehen Bundestagswahlen an - quasi auf dem Nachhauseweg, denn von Oppenau nach Gengenbach ist es nur noch ein Katzensprung.

Der Saal im Brauereigasthof "Bruder" ist voll besetzt, die Rede ein Heimspiel. Am Ende knöpft sich Schäuble den Spitzenkandidaten der SPD vor. Diesen Oskar Lafontaine, sagt er, habe er am 3. Oktober am Berliner Reichstag genau beobachtet. "Wenn einer Kanzler werden will, der beim Deutschlandlied die Lippen keinen Millimeter auseinanderbringt, dann ist er vielleicht doch nicht der richtige Kandidat in dieser Zeit!" Mehr geht nicht. Die Stimmung hat ihren Höhepunkt erreicht, danach ist Schluss. Einige möchten dem "Wolf" noch die Hand schütteln, andere wollen ein Autogramm.

Schäuble ist quasi schon am Ausgang, als die Schüsse fallen. Ein Projektil durchschlägt ihm die rechte Kieferseite, das andere bleibt auf Brustwirbelhöhe im Rückgrat stecken. Der Mann, der geschossen hat, lässt sich ohne große Gegenwehr überwältigen. Er heißt Dieter Kaufmann, stammt aus Appenweier und wird später aussagen, dass er auf Schäuble geschossen habe, "weil er als Innenminister für diesen Staat verantwortlich war, von dem ich mich terrorisiert fühlte". Gutachter werden dem 36-Jährigen Paranoid-halluzinatorische Schizophrenie attestieren, statt im Gefängnis wird er in einer psychiatrischen Anstalt landen.

Wolfgang Schäuble ist seitdem vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt. Mit den Folgen des Attentats hat Schäuble gehadert, mit der Tat nicht. Die betrachte er als Unglücksfall, hat er immer wieder gesagt, denn Kaufmann sei ja krank gewesen. Ingeborg Schäuble sagt rückblickend, dass sie anfangs fast im Mitleid und im Selbstmitleid ertrunken sei. Sie war auch dagegen, dass ihr Mann in die Politik zurückkehrte. Und sie war fassungslos, als er sie fast drohend fragte, ob sie sich nach der ersten dramatischen Veränderung ihres gemeinsamen Lebens tatsächlich noch eine zweite dramatische Veränderung wünsche. "Willst du", hat Wolfgang Schäuble seine Frau damals gefragt, "dass ich in ein sehr zurückgezogenes Leben umsteige, mit der Gefahr, dass die Unzufriedenheit wächst? Wäre das gut für dich und die Familie?"

Politik als Movens, als Überlebensmittel. Hans Peter Schütz, der pünktlich zum Geburtstag die neueste und persönlichste Schäuble-Biografie vorlegt ("Wolfgang Schäuble. Zwei Leben") geht davon aus, dass Schäuble über das Jahr 2013 hinaus weitermachen will. Weitermachen wird. Obwohl er zuweilen beklage, dass er sich im politischen Betrieb zunehmend einsam fühle.

Kein Wunder, möchte man meinen. Schließlich sitzt Schäuble seit 1972 im Bundestag. Er ist politikbesessen. Keiner hat länger durchgehalten. Seit Herta Däubler-Gmelin vor drei Jahren ausschied, ist Schäuble eine Art letzter Dinosaurier. Was seiner Klage ("Keiner ist mehr dabei, der mit mir in den Bundestag gegangen ist! Meine alten Weggefährten sind alle weg!") durchaus etwas Komisches gibt. Was erwartet er denn von seinen Altersgenossen? Denselben endlosen politischen Ehrgeiz? Ein ähnlich eisernes Durchhaltevermögen?

Vielleicht treiben ihn die alten Enttäuschungen an. Wolfgang Schäuble ist der deutsche Politiker, der nicht Kanzler, nicht Bundespräsident geworden ist. Die Kanzlerschaft hat ihm Helmut Kohl versperrt, der auf dem Höhepunkt der Spendenaffäre 1997/98 nicht freiwillig weichen und seinem treuesten Diener und erklärten Kronprinzen nicht Platz machen wollte. Um die Präsidentschaft betrog ihn am Ende Angela Merkel, die ihm das Amt in Vorgesprächen angetragen hatte, dann aber vor der FDP einknickte, die Schäuble ablehnte. Mit Kohl hat Wolfgang Schäuble für immer gebrochen ("Ich habe in meinem Leben schon zu viel meiner knapp bemessenen Lebenszeit mit dir verbracht. Es wird keine weitere Minute mehr geben!"). Auf Merkels Angebot zur Wiedergutmachung ist Schäuble 2005 eingegangen. Er hat damals, 15 Jahre nach dem Attentat, erneut das Amt des Bundesinnenministers übernommen. Und es kam noch besser: 2009 bot ihm die Kanzlerin das Finanzressort an. Richtig und endgültig gut wurde alles, als ihm Angela Merkel ihre Loyalität demonstrierte. Im Herbst 2010, als Schäuble ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Finanzkrise einen längeren Krankenhausaufenthalt unmöglich länger hinausschieben konnte, versicherte sie ihm, er habe alle Zeit, die er brauche. Mehr noch. Angela Merkel rief Ingeborg Schäuble an und sagte ihr, dass sie es ernst meine. Danach hat er es dann auch geglaubt.

Das Buch von Hans Peter Schütz ist die dritte Schäuble-Biografie. Die erste (Werner Filmer und Heribert Schwan: "Wolfgang Schäuble. Politik als Lebensaufgabe") erschien 1992, die zweite (Ulrich Reitz: "Wolfgang Schäuble. Die Biografie") vier Jahre später. Beide sahen Schäuble aus mittlerer Distanz und beschränkten sich notgedrungen aufs Politische. Schütz ist der erste Biograf, der Schäuble menschlich nahekommt. Besser gesagt: nahe ist. Denn Schütz war 1990 in Oppenau Augenzeuge des Attentats, weil er mit Schäuble am nächsten Tag eine Homestory für den "Stern" machen wollte.

"Mein Kollege Cornelius Meffert sollte ihn fotografieren. Zusammen mit Ehefrau Ingeborg und den vier Kindern Christine, 19, Hans-Jörg, 16, Juliane, 14, und Nesthäkchen Anna, 9, im Haus der Familie am Hang hoch über dem Schwarzwaldstädtchen Gengenbach. Beim Sport, den er liebt und der viel zu kurz kam, seit die Probleme der Deutschen Einheit den Bundesinnenminister 18 Stunden täglich auf Touren halten. Auch der Hund sollte ins Bild, den er auf seinen in letzter Zeit seltenen, ausgedehnten Wochenendwanderungen durch die Wälder seiner Heimat gerne mitnimmt ..." Am Ende machte Meffert die furchtbaren Bilder, die um die Welt gingen.

Dass ihn der Rollstuhl bitter gemacht habe, hat Wolfgang Schäuble immer weit von sich gewiesen. Den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel, der das behauptet hatte, strafte Schäuble dadurch ab, dass er fortan das Plenum verließ, wenn Vogel im Bundestag das Wort ergriff. Dass er noch ungeduldiger geworden ist, als er es ohnehin schon war, räumt er ein. "Weil alles langsamer geht." Eine Stunde, so Schäuble knatterig, brauche er morgens, "bis ich adrett im Rollstuhl sitze". Er weiß natürlich auch, wie das ankommt, wenn er in seiner Ungeduld mal wieder jemanden auf den Topf setzt. Er sei halt "nicht immer ein furchtbar liebenswürdiger Mensch", pflegt Wolfgang Schäuble dann zu sagen, wenn ihn einer auf seinen zuweilen rüden Umgangsstil anspricht. Er gibt sich allerdings auch selten Mühe, liebenswürdig zu wirken. Mal ist es ein Journalist, dem er frühmorgens im Radiointerview über den Mund fährt, mal kriegt ein Referent den Kopf gewaschen, mal ein Fraktionskollege.

Die Familie erlebt ihn anders. Thomas Schäuble hat Schütz gesagt, er finde seinen Bruder seit dem Attentat "eher zugänglicher als vorher". Dieser Bruder, der immer aus der Menge herausgeragt habe, dieses mathematische Genie ("Von der Sexta bis zur Oberprima hatte der in Mathe immer eine Eins ..."), freue sich nun über seine emotionale Zuwendung. Von Thomas Schäuble erfährt man, dass dieser Bruder als kleiner Junge ein schlechter Verlierer war, der sich kurzerhand den Fußball schnappte und nach Hause ging, wenn eine Niederlage drohte. Oder in übles Triumphgeheul ausbrach, wenn er beim Kartenspielen gewann. "Der Wolf", sagt Thomas Schäuble liebevoll, "ging mir schon ab und zu auf die Nerven."

Die ungewöhnlich privaten Äußerungen von Thomas und Ingeborg Schäuble heben das Schütz-Buch aus den üblichen Politiker-Biografien heraus. Mit 70 ist Wolfgang Schäuble offenbar bereit, einen Blick hinter den Schutzwall zu gewähren, den er nach dem Attentat um sich herum hochgezogen hat. Die Botschaft ist unmissverständlich. Sie lautet: Es geht mir gut, ich bin fit für eine neue Runde. Auch als Bundesfinanzminister.