Die Umfragen sind schlecht, doch die SPD zögert weiter mit der Entscheidung zur Kanzlerkandidatur. Davon profitiert allein der Ex-Finanzminister

Berlin. Bei der Frage, wer für die SPD im kommenden Jahr als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf ziehen soll, verhält es sich wie mit dem Kurs von Aktien. Oft sind es ungeahnte, irrationale Einflüsse, die den Wert von Papieren steigen oder fällen lassen. "Die Börse reagiert gerade mal zu zehn Prozent auf Fakten. Alles andere ist Psychologie", sagte André Kostolany, Börsenphilosoph des 20. Jahrhunderts.

Würde die SPD anhand von Fakten den Merkel-Herausforderer bestimmen, hätte womöglich Sigmar Gabriel die besten Chancen: Der Parteichef gewinnt auf Parteitagen stets die Herzen der Basis. Er kann Themen setzen, mit scharfen Thesen in den Nachrichten präsent sein. Und als Parteichef hat er das Vorschlagsrecht. Es wäre also ein Leichtes, selbst anzutreten. So weit die Fakten. Aber Gabriel gilt SPD-intern mitnichten als aussichtsreicher Kandidat. Auch bei der SPD sind also 90 Prozent Psychologie, wenn es um die klügste Strategie für 2013 geht.

Da fällt es auf, wie Peer Steinbrücks Kurs unerwartet wieder steigt. Der frühere Finanzminister, der den Sommer über kaum zu sehen und zu hören war, länger in Südafrika urlaubte und danach ein paar wenig werbewirksame Termine an der Basis absolvierte, zeigt nun sein Wahlkampfgesicht. Erst kündigte der 65-Jährige am Freitagabend bei seiner Nominierung zum Bundestagskandidaten im rheinischen Haan an, kein zweites Mal als Juniorpartner in einem von Angela Merkel geführten Kabinett zu sitzen. "Ihr kriegt Steinbrück nicht über den Umweg Angela Merkel", sagte der gebürtige Hamburger. Das klang schon sehr nach dem Bedürfnis, die Nummer eins zu sein.

Am Sonnabend dann, beim Zukunftskongress der SPD-Fraktion in Berlin, trat Steinbrück wieder auf. Am Morgen hatte Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier gesprochen, am späten Nachmittag würde Parteichef Gabriel den Kongress beschließen. Steinbrücks Rede war für den Mittag geplant, und von allen Beiträgen der sogenannten Kandidaten-Troika wurde seiner der lebendigste. Steinbrück nutzte seine halbe Stunde, um die Koalition hart anzugreifen und gleichzeitig das sozialdemokratische Herz zu erwärmen. Ja zu Steuererhöhungen für Wohlhabende, Ja zur gleichen Bezahlung von Mann und Frau, Ja zur Steuergerechtigkeit für Alleinerziehende und für unverheiratete und gleichgeschlechtliche Paare und Ja zur "demokratiekonformen Marktwirtschaft", der er Merkels Spruch der "marktkonformen Demokratie" entgegensetzte. Das gefiel dem Publikum. Es fand sogar gut, wie Steinbrück auf die so ungeliebte Agenda 2010 einging. "Etwas mehr Stolz, etwas mehr Selbstbewusstsein über das, was uns gelungen ist in dieser Zeit, täte dem öffentlichen Erscheinungsbild der SPD ganz gut." Warmer Applaus war ihm dafür sicher.

Später, als Steinbrück für eine Gesprächsrunde Platz nahm, warb er gemeinsam mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz für eine industrie- und mittelstandsfreundliche Politik. Auch hier verteidigten beide die sozialpolitischen Reformen der Regierungsjahre 2002 bis 2009. Da hatte Gabriel bereits den Namen des Kanzlerkandidaten via Kurznachrichtendienst Twitter verschickt: "Frank-Walter Gabrielbrück".

Die letzte Silbe der Namensschöpfung könnte im K-Rennen bald vorn liegen. Für weitere Aufmerksamkeit wird allein ein Buch über Steinbrück sorgen, das heute erscheint und am Mittwoch Helmut Kohls Finanzminister Theo Waigel vorgestellt wird. Eckart Lohse und Markus Wehner von der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" schreiben in der Steinbrücke-Biografie: "Um aus einer Bundestagswahl als Siegerin hervorzugehen, hat die SPD immer einen Kandidaten gebraucht, der in der Bevölkerung weit beliebter war als die Partei und der über deren ureigenste Anhängerschaft hinaus Leute für sich einnehmen konnte." Dies sei bei Helmut Schmidt ebenso der Fall gewesen wie bei Gerhard Schröder. Auch Steinbrück könnte das leisten.

In der SPD glaubt kaum noch jemand daran, dass erst nach der Wahl in Niedersachsen am 20. Januar 2013 entschieden wird, wer Merkel herausfordert. Der Druck auf die Genossen steigt, sich schneller festzulegen. Selbst bei den Grünen, die mit der SPD 2013 regieren wollen und sich aus der K-Frage heraushalten könnten, spricht man offen darüber, dass dieser Herbst zu einer Entscheidung führen müsse. Völlig unklar ist, wie sich die drei Aspiraten einigen wollen. Auch Steinmeier, der zuletzt als Favorit galt, lässt keine Zweifel an seinen Ambitionen offen. In der Sommerpause hatten sich prominente Genossen wie der schleswig-holsteinische Regierungschef Torsten Albig für den Kanzlerkandidaten von 2009 starkgemacht. Doch in der Partei hat man nicht vergessen, dass auch seine fehlende Begeisterungsfähigkeit mit zu dem 23-Prozent-Debakel geführt hatte. Auch er sagte beim Zukunftskongress, die SPD wolle "eine Regierung von vorne führen", nur klang derselbe Gedanke bei Steinbrück deutlich bissiger.

4Blickt man auf die Umfragen, bescheinigen die Deutschen der SPD derzeit allerdings nur wenig Biss. Die Sozialdemokraten sacken um zwei Punkte auf 26 Prozent ab. Die Union steigt dagegen auf 38 Prozent, wie eine Emnid-Umfrage für "Bild am Sonntag" ergab. So groß war der Abstand seit der letzten Bundestagswahl nicht mehr. Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner hat dafür eine simple Erklärung: "Außerhalb der Frage, wer denn nun Kanzlerkandidat werden soll, ist von der SPD nicht viel zu hören." Noch ein Grund, warum diese eine Frage bald geklärt sein könnte.