CSU-Chef sieht Vertrauenskrise der Europäischen Union: “Europa darf kein Projekt der Eliten bleiben“

Berlin. Die schwarz-gelbe Koalition treibt die Debatte über Volksabstimmungen zur politischen Zukunft der Europäischen Union voran. CSU-Chef Horst Seehofer sagte der "Welt am Sonntag", er sehe drei Felder, bei denen das Volk befragt werden müsste: "Erstens: bei der Übertragung von wesentlichen Kompetenzen nach Brüssel. Zweitens: vor der Aufnahme weiterer Staaten in die Europäische Union. Und drittens: über finanzielle deutsche Hilfen für andere EU-Staaten." Als Beispiele nannte er Euro-Bonds und einen Schuldentilgungsfonds. "Solche Fragen sollte man der Bevölkerung zur Entscheidung vorlegen", betonte der bayerische Ministerpräsident.

Seehofer forderte eine Verfassungsänderung: "Wir sollten solche Formen des Plebiszits in das Grundgesetz aufnehmen. Wir müssen die Bevölkerung stärker beteiligen." Europa dürfe kein Projekt der Eliten bleiben. "Nur mit mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung können wir die Legitimations- und Vertrauenskrise gegenüber den europäischen Institutionen überwinden", sagte der CSU-Vorsitzende. Niemand werde es durchhalten, "zu Fragen der Volksabstimmung immer nur Nein zu sagen". Die Bevölkerung für unfähig zu erklären sei "pure Arroganz".

Seehofer verwies zugleich auf Grenzen der europäischen Einigung. "Mit der CSU wird es keine Vereinigten Staaten von Europa geben. Ohne Zustimmung der Bevölkerung wäre das ohnehin nicht möglich. Und die Bevölkerung will keinen europäischen Superstaat." Seine Vision sei ein Europa der Regionen. Zuvor hatte auch FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle ein Referendum über die politische Zukunft der EU ins Spiel gebracht. "Wir können an einen Punkt kommen, an dem eine Volksabstimmung über Europa notwendig wird", hatte er dem Abendblatt gesagt. Die weitere Entwicklung der Krise werde zeigen, wie stark die EU-Länder zur Aufgabe von Souveränität aufgefordert seien. Nötig seien auf jeden Fall gemeinsame Mechanismen, etwa im Umgang mit den Banken. Brüderle verwies auf das für September erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Eilanträge gegen den Euro-Rettungsschirm ESM und den europäischen Fiskalpakt. Dann werde das Gericht erklären, "in welchen Punkten die Grenzen des Grundgesetzes erreicht werden".

Ende Juni hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine Debatte über Volksentscheide zu EU-Fragen losgetreten. Wenn immer mehr Souveränität nach Brüssel übertragen werde, seien irgendwann die Grenzen des Grundgesetzes erreicht. Er gehe davon aus, dass die Deutschen als Konsequenz aus der Schuldenkrise eher früher als später über eine neue Verfassung abstimmen müssten. Allerdings hatten sich andere führende Politiker von CDU und CSU zurückhaltend zu Volksabstimmungen geäußert und betont, für eine Diskussion darüber gebe es derzeit keine Veranlassung.

Für Volksabstimmungen auf Bundesebene müsste erst das Grundgesetz geändert werden. Zwar ist der Begriff "Abstimmungen" auch in Artikel 20 GG enthalten. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt", heißt es dort. Ausdrücklich vorgesehen ist eine Volksabstimmung nur bei einer Neugliederung des Bundesgebiets - und für den Fall, dass das Grundgesetz eines Tages durch eine neue Verfassung abgelöst werden sollte. Geregelt ist dies in Artikel 146.

Der Vorschlag einer Volksabstimmung in EU-Fragen ist zudem riskant. Es war das "Nee" der Niederländer, das im Juni 2005 das endgültige Aus für die europäische Verfassung bedeutete. Nur drei Tage zuvor hatten auch die Franzosen gegen das Projekt gestimmt. Die Suche nach einem "Plan B" begann. 2007 war dieser mit dem EU-Reformvertrag gefunden, den 2008 prompt die Iren in einem weiteren Referendum zunächst kippten. Erst im zweiten Anlauf billigten die Iren im Oktober 2009 den Vertrag, nachdem die EU Irland Souveränitätsgarantien zugesichert hatte.