Trotz seines Töchterchens - Der SPD-Chef Gabriel meldet sich ständig zu Wort. Jetzt plant er die Schulden in der EU zu vergemeinschaften.

Berlin. In einer Magdeburger Altbauwohnung befindet sich in diesem Sommer die Zentrale der deutschen Oppositionsarbeit. Hier wohnen die Zahnärztin Anke Stadler und ihr Lebensgefährte Sigmar Gabriel mit ihrer gemeinsamen Tochter Marie, die im April geboren wurde. Der Vorsitzende der SPD und die Zahnärztin kümmern sich hauptamtlich ums Kind. So hatte es Gabriel im Frühjahr auch angekündigt: Von Juli bis September wolle er Baby-Pause machen, seine Tochter wickeln und füttern und das Tagesgeschäft seiner Generalsekretärin Andrea Nahles überlassen. In der Hauptstadt wollte er sich am liebsten gar nicht blicken lassen. Doch seit Gabriel seine Auszeit angetreten hat, sind bei ihm Nebenaktivitäten zu vermerken, die darauf hindeuten, dass die kleine Marie doch nicht die erwartete tagesfüllende Aufgabe darstellt. Der Parteichef wirkt hyperaktiv.

Er gibt reihenweise Interviews, er twittert öffentlichkeitswirksam, immer wieder ist er unterwegs. Gestern weilte er sogar wieder in der Parteizentrale. Vorher hatte er wieder ein Interview gegeben, diesmal der "Berliner Zeitung". Mit dem, was er sagte, wollte er Wellen schlagen - was durchaus gelang. Gabriel hatte nicht weniger als einen Strategiewechsel seiner Partei bei der Euro-Rettung angedeutet. Er werbe für eine offene gemeinschaftliche Haftung für die Schulden aller Euro-Staaten bei gleichzeitiger strenger gemeinsamer Haushaltskontrolle, sagte er. Gabriel machte sich damit einen Vorschlag der Professoren Jürgen Habermas, Peter Bofinger und Julian Nida-Rümelin zu eigen, den diese für die Wahlprogrammdiskussion der SPD formuliert hatten. Demnach soll ein Verfassungskonvent eine Grundgesetzänderung erarbeiten, über die dann in einer Volksabstimmung abgestimmt werden solle. Im Willy-Brandt-Haus legte er dann nach: "Sie werden den Euro nicht zusammenhalten ohne eine gemeinsame Steuer- und Finanzpolitik." Als "schlichten Unfug" bezeichnete er die Stimmen, die von einem Kurswechsel der SPD sprachen.

+++ Gefährliche Rhetorik +++

Doch da war die Empörungswelle längst über ihn hinweggerollt. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle warf Gabriel vor, sich selbst mit seinem Vorpreschen für eine Vergemeinschaftung der Schulden in Europa zu entlarven. Der Vorschlag zeige, dass die SPD eine Schuldenunion wolle. Unionsfraktionsvize Michael Meister (CDU) sagte: "Gabriels Vorschlag bedeutet, dass Arbeitnehmer, Rentner, Sparer und Unternehmer für die Schulden der anderen Mitgliedstaaten aufkommen sollen." Derber fiel wie so häufig die Wortwahl aus München aus. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt stellte fest, dass Gabriel "gemeingefährlich" werde. Der Vorschlag sei ein "Generalangriff des SPD-Vorsitzenden auf die deutsche Steuerkasse". Der europapolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, der Hamburger Manuel Sarrazin, reagierte positiv: "Es ist schön, dass die SPD anscheinend doch wieder zur Forderung der Grünen nach einem Altschuldentilgungsfonds steht", sagte er dem Abendblatt. Um zu einer Lösung der Krise zu kommen, werde man mehr Fiskaldisziplin, aber eben auch demokratisch kontrollierte Maßnahmen der gemeinsamen Haftung brauchen.

So mag es Gabriel. Er will den Ton, die Richtung und die Auseinandersetzungen in der Europadebatte prägen und sich dabei als der Wortführer und Ideengeber der SPD profilieren. Auch wenn es in Parteikreisen heißt, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sei der momentane Favorit für die Kanzlerkandidatur 2013, lässt Gabriel keinen Zweifel an seinen Ambitionen.

+++ Gabriel fordert radikalen Strategiewechsel +++

Nur so wird auch sein mitteilungsfreudiger Umgang mit der angeblichen Auszeit erklärbar. Gabriel selbst findet allerdings, dass er die Ruhe selbst ist. Kürzlich sagte er in einem Interview mit dem "Tagesspiegel", dass er die Pause "einfach klasse" finde. Vor zehn Jahren habe er gedacht, nichts liefe ohne ihn. Heute genieße er es, "morgens aufzuwachen und mal keinen Termin vor mir zu haben, nicht unter Druck zu stehen und den Tag im ziemlich ruhigen Takt meiner Tochter zu erleben".

Einen Termin gab es allerdings vor einigen Tagen, bei dem Gabriel sogar einen Blick in seine Magdeburger "Parteizentrale" erlaubte. In einem Twitter-Interview ließ er ein Foto veröffentlichen, das ihn mit schwarzem Polohemd und einem Kaffeebecher in der Hand am Laptop in der Privatwohnung zeigte. "Mariechen ist abgefüttert, der Kaffee ist da, also kann's losgehen :-))" - das war sein erster Eintrag. Dann nahm er sich eine Stunde Zeit für das Frage-Antwort-Spiel, das maximal 140 Zeichen pro Eintrag erlaubt. Gabriel wollte über die Euro-Krise und die Bankenregulierung mit den Nutzern von Twitter diskutieren, aber nicht alle Teilnehmer folgten seinem Wunsch. Ob sein Kaffee aus dem Fair-Trade-Handel stamme, wollte jemand wissen. "Ehrlich gesagt, weiß ich es gar nicht. Aber ich werde es mal prüfen", antwortete Gabriel kleinlaut. Ein Twitter-Nutzer mokierte sich über die sichtbaren goldfarbenen Türbeschläge in dem Zimmer. Gabriel entgegnete: "Is' ne Mietwohnung." Das Kommunikations-Experiment glückte und brachte ihm reichlich Schlagzeilen.

Demnächst könnte es um den umtriebigen Parteichef tatsächlich ruhiger werden. Angeblich wollen Gabriel und Stadler am 18. August in Goslar heiraten und am selben Tag Marie taufen lassen.

Erst im Herbst will Gabriel wieder richtig präsent sein im politischen Hauen und Stechen zwischen Regierung und Opposition. Dann wird er auch seltener bei Marie sein. "Wenn der Betrieb wieder auf Hochtouren läuft, werden wir die gleichen Probleme haben wie Millionen andere berufstätiger Eltern auch", sagte Gabriel jüngst. Dabei werde seine Lebensgefährtin den größeren Teil der Last tragen. "Wer behauptet, Job und Familie ließen sich in einem solchen Beruf, wie ich ihn habe, hundertprozentig gleichberechtigt organisieren, der macht sich was vor."

Solange die Magdeburger Altbauwohnung als heimliche SPD-Zentrale dient, klappt es erstaunlich gut.