Aufgrund aktueller Gewaltdelikte im Zusammenhang mit Zwangsehen soll diese Form der Eheschließung zu einer Straftat erklärt werden.

Berlin/Hamburg. Die Mädchen sind 14 und 15 Jahre alt, und der Verdacht gegen ihre Eltern wiegt schwer: In Berlin und Hamburg sollen sie ihre Töchter mit 19-jährigen Männern verheiratet haben. Noch laufen die Ermittlungen, ob das so stimmt und ob die Mädchen damit einverstanden waren – oder nicht. Vieles ist noch unklar. Doch der Verdacht, dass es hier um Zwangsehen geht, bleibt im Raum stehen. Wie oft kommt so etwas in Deutschland vor? Warum handeln Eltern so? Die Frauen-Hilfsorganisation Terre des Femmes geht davon aus, dass in der Bundesrepublik jedes Jahr weit mehr als 1000 Mädchen aus Migrantenfamilien in Ehen gezwungen werden. Uni-Soziologe Werner Schiffbauer hält Zwangsheiraten dagegen für große Ausnahmen.

150 bis 200 junge Mädchen mit türkischen, libanesischen, jordanischen, afghanischen, pakistanischen Wurzeln rufen jedes Jahr verzweifelt bei Terre des Femmes an. Die meisten sind 16 oder 17. „Sie fühlen sich von ihren Familien massiv bedroht“, berichtet Mitarbeiterin Myria Böhmecke. Häufig stehe eine Reise in die Heimat kurz bevor, die Eltern redeten von Verlobung und Heirat. Weigerten sich die Mädchen, würden sie geschlagen und eingesperrt. „Das ist nicht ausschließlich ein Problem islamischer Familien“, betont Böhmecke. Auch Familien, die vom Balkan oder aus Indien eingewandert seien, handelten so. „Grund ist oft ein sehr traditionelles und patriarchalisch geprägtes Familienbewusstsein.“

Die Gesetze in Deutschland sind beim Heiraten im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 1303, klar formuliert: Eine Ehe soll nicht vor der Volljährigkeit, also dem 18. Geburtstag, geschlossen werden. Wer zwischen 16 und 18 Jahre alt ist, könne nur mit Zustimmung eines Familiengerichts standesamtlich heiraten, erläutert die Berliner Familienrechtsanwältin Eva Großmann. Der Partner müsse dann aber volljährig sein, auch die Zustimmung der Eltern werde eingeholt. Wer aber jünger als 16 Jahre alt ist, kann in Deutschland nicht standesamtlich heiraten. Eine Ehe nach religiösem Ritus ist zwar möglich, bietet dann aber keine staatliche Rechtssicherheit.

An der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) sieht Wissenschaftler Werner Schiffbauer Zwangsehen in Deutschland als Ausnahme. Schiffbauer ist Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie und hat unter anderem in der Türkei geforscht. „Es gibt einen großen Spielraum zwischen Zwangsehen und arrangierten Ehen, die Bindungen zur Verwandtschaft vertiefen“, sagt er. Zwangsheirat gegen den Willen eines Ehepartners verstoße aber auch gegen islamische Normen. Entscheidend sei oft die Herkunft einer Migrantenfamilie in Deutschland. „In der Westtürkei und in den großen Städten wird das Thema Familienehre und sexuelle Freiheit viel gelassener gesehen als bei den Kurden in Ostanatolien“, berichtet er.

Ausschließen will Schiffbauer Zwangsehen in Deutschland aber nicht. „Bei den Eltern steckt dann oft die massive Angst dahinter, dass ihre Töchter in Berliner Problembezirken wie Nord-Neukölln auf die schiefe Bahn geraten“, sagt er. In der Regel seien es Unterschichts-Familien, die an den traditionellen Ehrbegriffen festhielten. Bei der Mittelschicht reiche das Stichwort Familienehre für Zwangsehen allein nicht aus. Die zweite Generation, die deutsche Schulen besucht habe, sehe diese Praxis eher kritisch. Auch in vielen islamischen Gemeinden gebe es spürbare Tendenzen, dagegen anzugehen. Dennoch hält Schiffbauer es für richtig und wichtig, dass es in Deutschland Hilfe für Mädchen gibt, denen eine Zwangsheirat droht.

Die Helferinnen von Terre des Femmes sehen die Lage mit ihrer Erfahrung dramatischer. 378 Fälle von Zwangsheirat seien 2007 allein in Berlin gezählt worden – die Dunkelziffer noch gar nicht mit eingerechnet, sagt Helferin Böhmecke. Für die Bundesregierung stelle die Hilfsorganisation gerade Zahlen für ganz Deutschland zusammen, die Schätzungen liegen heute schon bei über 1000 pro Jahr. Dass mehr Fälle öffentlich werden als früher, liege aber auch an den Hilfskampagnen für junge Mädchen – vor allem im Internet.

Verstehen lässt sich Zwangsheirat in Deutschland heute schwer. „Die Familienehre ist für manche Migrantenfamilien wichtiger als der Wunsch der eigenen Tochter“, erläutert Myria Böhmecke. Nach traditionellem Verständnis kontrollierten die Männer der Familie das Wohlverhalten der Frauen bis hin zur Sexualität. Gerade junge Männer ohne Perspektiven in Deutschland machten dieses Aufpassen zu einer Art Ersatz-Beruf. Vor Drohungen und Gewalt schreckten sie nicht zurück. „Irgendwann haben junge Mädchen, die bewacht und misshandelt werden, keine Kraft mehr zur Gegenwehr“, sagt Böhmecke.

Im Bundestag liegt eine Gesetzesinitiative vor, die Zwangsehen in Deutschland zu einem Straftatbestand machen will. Dann könnte die Polizei nicht allein wegen Nötigung und Vergewaltigung ermitteln. Böhmecke würde diese klare Regelung begrüßen.

Denn helfen können Organisationen wie Terre des Femmes nicht immer. „Wenn wirklich eine Zwangsheirat droht, bleibt einem jungen Mädchen fast nur die Möglichkeit, seine Familie zu verlassen“, erläutert Böhmecke. Doch welcher Teenie ist mit 16 oder 17 bereit, Eltern, Geschwister und Freunde gegen einen Platz im Jugendhaus einer anderen Stadt zu tauschen? Wer jedoch ohne rein deutsche Staatsbürgerschaft gegen seinen Willen in die alte Heimat verschleppt wird, hat auch kaum eine Chance. „Die Mädchen bekommen dort sofort Pass, Geld und Handy abgenommen“, berichtet Böhmecke. „Von den meisten hören wir nie wieder etwas.“

Hilfe im Internet finden Betroffene unter www.zwangsheirat.de