Berliner Begegnungen: In loser Folge trifft das Hamburger Abendblatt Menschen, die in der Hauptstadt eine wichtige Rolle spielen.

Da kommt er." Steinbrücks Büroleiterin hat den Horizont Unter den Linden abgesucht, und tatsächlich hält Augenblicke später eine schwarze Limousine vor der Nummer 50. Und schon wuchtet Peer Steinbrück zielstrebig Aktentaschen vom Rücksitz und große gelbe Postkartons aus dem Kofferraum, und gleich geht's im Eiltempo nach oben, Steinbrück mit seinen Taschen vorneweg, dieser Mann, das wusste man ja irgendwie schon, hat keine Zeit zu verlieren und teilt während des Rennens auch gleich mit, dass er um Viertel nach zehn im Bundestag sein muss, also Aufbruch um zehn: "Spätestens!", und Fotos im Innenhof zwischen den kahlen Birken kommen gar nicht infrage, "Mach ich nicht!", und jetzt mal am besten gleich einen Kaffee.

Das Büro scheint etwas klein bemessen für einen seines Temperaments und Formats, doch in diesem Punkt sind vor der Bundestagsverwaltung alle Abgeordneten gleich. Breite Flure, kleine Zimmer, das ist offenbar das Gestaltungsprinzip des Architekten gewesen. Nur Steinbrücks Nachbar Gerhard Schröder hat ein größeres Büro, aber der ist ja auch mal Bundeskanzler gewesen, und das schlägt sich jetzt in Quadratmetern nieder. Steinbrück hat seine Butze dadurch verschönert, dass er ein großes Schiffsmodell aufgestellt hat. "Die 'Constitution'", sagt er. "Amerikanische Fregatte, flaches Deck, 1810, 1811." Aha. Selbst gebaut? "Nee, dieses nicht, aber andere. Früher." Warum macht man das? "Weil es entspannt." Und was liest er so zur Entspannung? Zum Beispiel die marinehistorischen Romane von Kent, Forester und O'Brien. "Patrick O'Brien ist der Beste. Kennen Sie die Verfilmung von 'Master and Commander' mit Russell Crowe? Sensationell." Und was ist mit dem Nashorn auf dem anderen Sideboard? "Gipsabdruck", sagt Steinbrück. "Die Bronze steht bei mir zu Hause." In Berlin? "In Bad Godesberg." Im Bücherregal stehen jede Menge kleiner Nashörner. "Da sehen Sie, was man davon hat, wenn man private Dinge preisgibt", sagt Steinbrück und lacht. Ja, Scheußlichkeiten im Regal, die man nicht wegwerfen kann, weil sonst bestimmt jemand sehr beleidigt ist! Steinbrück lacht noch lauter. Er wird übrigens mit Nashörnern beschenkt, seit er mal gesagt hat, diese Spezies sei ihm sympathisch, weil man sie nicht mehr aufhalten kann, wenn sie einmal in Fahrt gekommen ist. Das war natürlich metaphorisch, als Homo politicus hält sich Peer Steinbrück selbst für eine Art Nashorn.

Er ist Hamburger. Selbst die langen Jahre in Bonn, Düsseldorf und Berlin haben den Tonfall nicht abschleifen können. Andererseits: Er ist wegen der alten Freunde ja noch oft in seiner Vaterstadt. Wie oft? Steinbrück überlegt. "Einmal im Monat?" Sein Lieblingsplatz, sagt er, sei nach wie vor die kleine Landzunge an der Schönen Aussicht. "Wenn Sie die Auguststraße runtergehen, laufen Sie genau drauf zu." Um die Ecke war zu Hause. Die Familie - der Vater war Architekt - wohnte am Schrötteringksweg, und der steinbrücksche Kosmos war überschaubar: Volksschule am Winterhuder Weg, Abitur am Wirtschaftsgymnasium Lämmermarkt.

Er hat dann Volkswirtschaft in Kiel studiert, und 1969 ist er in die SPD eingetreten. "Weil ich den Umgang mit Willy Brandt infam fand. Die Geschichten, die damals um seine uneheliche Geburt und seine Exilzeit in Umlauf gesetzt wurden, waren so was von mies!" Nach dem Diplom ist Steinbrück nach Bonn gegangen, ins Bundesbauministerium. Drei Jahre später war er persönlicher Referent von Hans Matthöfer, 1978 schon Hilfsreferent im Kanzleramt bei Helmut Schmidt. Was hat so ein Hilfsreferent zu tun? Steinbrück ist amüsiert. "Er klebt keine Briefmarken auf, wenn Sie das denken." Wie auf Knopfdruck beweist sich, dass er einen pädagogischen Impetus hat. Am Ende des kleinen Vortrags hat man begriffen, dass Hilfsreferent zwar nach wenig klingt, dass so ein Ministerium oder das Kanzleramt aber ohne Hilfsreferenten quasi gar nicht funktionieren würde. Weil der Hauptreferent ja nicht alles alleine machen kann.

Berlin hat Peer Steinbrück damals übrigens auch kennengelernt. Genau gesagt Honeckers Ost-Berlin. Damals, 1981, hat er ein knappes Jahr in der Ständigen Vertretung gearbeitet. "Wenn Sie verbeamtet wurden, mussten Sie mal ganz woanders hin." Ost-Berlin sei seine "Kinderlandverschickung" gewesen, sagt Steinbrück flapsig, und, "nein", schön sei's da nicht gewesen, eher deprimierend. "Alles war grau, und über allem hing der Geruch von diesem Reinigungsmittel ..." - Wofasept! - "... und dazu kam noch der Braunkohlenebel. In den ersten Tagen dachte ich: 'Mann, du kriegst 'ne schwere Erkältung', bis ich mitkriegte, das war die Luftverschmutzung! Aber Ost-Berlin war vor allem deshalb so deprimierend, weil selbst so ein kleines Licht wie ich mitbekam, wie rigoros die Staatssicherheit die Leute verfolgte. Die guckten sich ja sogar an, was ich unternahm!" Ist er Honecker mal persönlich begegnet? "Mehrfach, aber später, als ich Büroleiter bei Johannes Rau war" (damals Ministerpräsident in NRW). Und wie war Honecker? "Hölzern. Aber das waren die ja alle."

Und wo war Peer Steinbrück, als die Mauer aufging? "In Ost-Berlin. Wir waren damals auf dem Weg nach Leipzig, wo Rau als Ministerpräsident eine nordrhein-westfälische Kulturwoche eröffnen wollte. Und vorher sollte es nachmittags in Ost-Berlin noch eine Pressekonferenz geben, ausgerechnet in dem Saal, in dem vorher Günter Schabowski seine machte. Ich glaube ja heute noch, dass der sich verhaspelt hat. Egal, wir kriegten nur mit, dass etwas Großes passiert war, konnten es aber nicht einordnen. In Leipzig - ausgerechnet Leipzig! - machte dann schon das Wort 'historisch' die Runde, die Dimension war aber unklar. Das war die Situation, in der Rau zu 2000 Menschen sprechen sollte. Es war die schwierigste Rede seines Lebens. Einerseits bestand die Gefahr, das Ereignis zu unterschneiden und an den Leuten komplett vorbeizureden, andererseits war ihm klar, dass er sie nicht in einer patriotischen Aufwallung auf die Barrikaden jagen durfte, weil niemand einschätzen konnte, wie gefährlich die Lage war." Und? "Er fand den richtigen Ton. Es war bewundernswert." Und was ist Peer Steinbrück sonst noch aus dieser Nacht in Erinnerung? "Friedhelm Farthmann. Der gehörte als SPD-Landtagsfraktionsvorsitzender zur Delegation. Farthmann verteilte irgendwann 50-D-Mark-Scheine und rief immerzu: 'Das ist es mir wert!, Das ist es mir wert!' Am nächsten Tag sind wir dann nach Dresden gefahren, um Hans Modrow zu treffen, der damals als Reformer galt."

Peer Steinbrück ist nach der Wende Wirtschaftsminister in Kiel und Finanzminister in Düsseldorf geworden. 2002, als Wolfgang Clement ins Bundeskabinett wechselte, stieg Steinbrück in Nordrhein-Westfalen zum Ministerpräsidenten auf. Drei Jahre später schien alles vorbei. Die SPD verlor krachend die Landtagswahl, und plötzlich hing Steinbrück in der Luft. Ein Macher, der mit 58 viel zu jung war fürs Privatisieren. Sechseinhalb Monate später wurde er als Bundesfinanzminister der Großen Koalition vereidigt.

In Berlin lief der Hamburger zu großer Form auf. Vor allem im Herbst 2008, über den er später sagte: "Wir haben in den Abgrund geschaut." Als während der Finanzkrise sämtliche Dämme zu brechen schienen, sahen die Deutschen in ihrem Finanzminister den Fels in der Brandung. Gallig-witzig und furchtlos schien er bereit, sich jeden Tag mit jedem anzulegen. Nicht nur mit den vergleichsweise harmlosen Schweizern, sondern auch mit Briten und Amerikanern, vor allem aber mit den Bankern.

Auf die er bis heute nicht gut zu sprechen ist. In der Branche gebe es wieder "eine klare Bereicherungsmentalität", sagt Steinbrück, von "Gemeinwohlorientierung" sei da wenig zu spüren. "Mir schwebt", sagt Steinbrück und kneift die Augen zusammen, "da gerade jemand von einem Investmentfonds in Hamburg vor." Apropos Banker. Hat er Josef Ackermann mal gesagt, dass er seinen Posten bei der Deutschen Bank gewissermaßen Steinbrücks Urgroßonkel verdankt, einem gewissen Adelbert Delbrück, der diese Bank 1870 gegründet hat? "Ja." Und, war Ackermann begeistert? "Nein. Ich habe ihn nämlich gefragt, ob daraus nicht noch Ansprüche von mir resultieren!" Steinbrück lacht los, und die Nashörner im Regal wackeln.

Bis heute füllt er jeden Saal, den er betritt. Fast scheint es, als wären die Deutschen süchtig nach den unbequemen Wahrheiten, die der 64-Jährige bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit verkündet. Dass das Land sich anstrengen müsse, weil Konkurrenten wie China, Indien, Indonesien, Brasilien, Mexiko und sogar die Türkei dabei seien, den Deutschen ihre Wettbewerbsfähigkeit streitig zu machen. "Wenn wir den Laden hier zusammenhalten wollen", ruft er seinen Zuhörern dann mit strengem Blick zu, "wird das ohne Anstrengung nämlich nicht funktionieren." Diese Auftritte befeuern unaufhörlich die Frage, ob die SPD 2013 mit Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten ins Rennen gehen sollte. Die Umfragen sind eindeutig. Steinbrück rangiert klar vor Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, Parteichef Sigmar Gabriel wirkt schon abgeschlagen. Und Steinbrück, der vor Jahresfrist noch behauptet hat, das Thema sei für ihn durch - "Ich schließe das aus!" -, wirbt inzwischen - ein Schelm, wer Böses dabei denkt - für Mitgliederbefragungen. "Das haben wir ja in Kiel und in Baden-Württemberg gesehen, dass die Mitglieder der Partei einer anderen Logik folgen als Parteitage oder Delegiertenkonferenzen. Im Übrigen haben Sie dann auch eine ganz andere Legitimation, wenn Sie von der Mitgliedschaft gewählt worden sind. Dann müssen Sie sich jedenfalls nicht, was sonst gelegentlich vorkommt, von einzelnen Vertretern der Parteiführung angeigen lassen." - Apropos angeigen: Spielt er ein Instrument? "Leider nicht." Da fällt ihm etwas ein. "Als ich zehn, elf Jahre alt war, habe ich meine Mutter schrecklich mit der Frage genervt: 'Was krieg ich zu Weihnachten?' Irgendwann hat sie mit den Händen so gemacht." Steinbrück klimpert in der Luft. "Ich dachte entsetzt: Klavierstunden! Aber was habe ich gekriegt? Ihre Continental-Schreibmaschine." Auf dem alten Ding hat er aber seine beiden Bücher "Unterm Strich" und "Zug um Zug" nicht geschrieben, oder? "Nee."

Was die K-Frage angeht, sagt Peer Steinbrück, dass es für die Entscheidung noch viel zu früh sei. Den diplomatischen Rest - dass der Parteivorsitzende den Taktstock in der Hand hat und zum richtigen Zeitpunkt den Einsatz geben wird - lassen wir hier mal weg." Interessanter ist die Frage, was Frau Steinbrück über die möglichen Ambitionen von Herrn Steinbrück denkt. Ist sie nicht froh, dass ihr Mann jetzt wieder häufiger Scrabble oder Tennis mit ihr spielt? "Wohl wahr." Und? "Da treffen Sie einen empfindlichen Nerv." Das heißt, Frau Steinbrück ist nicht begeistert? "Stimmt. Aber ein russisches Sprichwort sagt: 'Bevor es nicht gedonnert hat, bekreuzigt sich der Muschik nicht.' Und bisher hat's noch nicht gedonnert."