Chef der Barmer GEK warnt vor weiter steigenden Kosten und fordert, die Beiträge wieder selbst gestalten zu können

Hamburg. Mit Schadenfreude schauen die 70 Millionen Kassenpatienten in diesen Tagen auf die Privatversicherten: Deren Prämien steigen 2012 kräftig, die alternde Gesellschaft und der medizinische Fortschritt treiben die Kosten. Die Mitglieder etwa der Barmer GEK, Techniker und DAK sowie die AOK-Versicherten träumen dagegen sogar von sinkenden Beiträgen für die gesetzliche Krankenversicherung. Denn der Gesundheitsfonds weist einen Milliarden-Überschuss aus.

Doch diese Zahlen sagen nicht die ganze Wahrheit. Der politisch gewollte Einheitsbeitrag von 15,5 Prozent vom Monatsbrutto (7,3 Prozent Arbeitgeber, 8,2 Prozent Arbeitnehmer) und die Zusatzbeiträge von zumeist acht Euro im Monat haben den gesetzlichen Krankenversicherungen innerhalb von drei Jahren zwar gute Einnahmen beschert. Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt warnt der Vorstandsvorsitzende von Deutschlands größter gesetzlicher Kasse Barmer GEK, Christoph Straub, aber vor den ungesunden Trends in seiner Branche. "Die Jubelmeldungen über das Plus der gesetzlichen Krankenversicherung von 3,9 Milliarden Euro sind nicht angemessen. Noch 2009 hatten wir eine Unterdeckung im Gesundheitsfonds." Immerhin, so Straub, hätte ein Spargesetz des damaligen Gesundheitsministers Philipp Rösler (FDP) für kurzfristige Entlastung gesorgt. "Die Einsparungen haben mittlerweile gegriffen, vor allem bei den Medikamenten. Aber schon jetzt ziehen insbesondere die Arzneimittel- und Krankenhausausgaben wieder an. Was wir jetzt erleben, ist nur ein vorübergehendes Hoch. Zumal sich 2013 die wirtschaftliche Lage voraussichtlich verschlechtern wird, während gleichzeitig die Ausgaben im Gesundheitswesen weiter steigen werden."

Der Zusatzbeitrag hat bei Kassen wie der DAK und der KKH-Allianz dazu geführt, dass Zehntausende Mitglieder flüchteten. Zwei Kassen, darunter die City BKK, werden derzeit abgewickelt, andere fusionieren. Die Kunden waren verunsichert und wurden zum Teil bei Kassen, zu denen sie wechseln wollten, mit rüden Tricks abgewimmelt.

Straub will deshalb zum alten System zurück: Jede Kasse soll wieder ihren eigenen Beitrag erheben. "Der Einheitsbeitrag und der Zusatzbeitrag, den jede Kasse erheben kann, wenn sie mit dem Geld aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommt, waren ja ein politischer Kompromiss der Großen Koalition. Ökonomisch sind die acht Euro, die einige Kassen extra verlangen, eine kleine Größe. Aber am Markt ist das ein starkes Signal." So kam es zu den Mitgliederwanderungen. Straub: "Der Zusatzbeitrag fördert einen Wettbewerb um billige Preise. Wir wollen hingegen mehr Autonomie über unsere Finanzen, um mehr in neue Versorgungsmodelle, in Forschung und Entwicklung zu investieren. Diese Autonomie schließt die Beitragssatzgestaltung ein."

Unter den Kassen selbst, von denen die in Hamburg beheimateten Techniker, DAK, HEK und die AOK Rheinland/Hamburg eine gewichtige Rolle spielen, entwickelte sich ein Hauen und Stechen. Die finanziell unter Druck stehende DAK fusioniert demnächst mit einigen Betriebskrankenkassen. Dadurch will sie von April an auf den Zusatzbeitrag verzichten, der viele ihrer Mitglieder vergrault hat. Das wiederum empört Barmer GEK, Techniker und andere. Deren Vorstände schrieben an das Bundesversicherungsamt (BVA) und schwärzten ihre DAK-Kollegen wegen deren finanzieller Schieflage an (das Abendblatt berichtete).

Barmer-GEK-Chef Straub erklärt das egene Vorgehen: "Ich sehe das nicht als ein Anschwärzen. Die Situation ist durchaus mit der in der Europäischen Union vergleichbar. Wir treten zwar immer noch als Ersatzkassen auf, aber der Name spielt nur im Zusammenhang mit der Herkunft eine Rolle. Heute kann jede Kasse für sich handeln, für die Folgen haften aber die anderen mit. Allein aus diesem Grund wollen wir eine Abschaffung von Zusatzbeiträgen gründlich hinterfragt wissen. Wir sehen uns übrigens mit der Warnung bestätigt, weil auch das Bundesversicherungsamt interveniert hat."

Der Kampf der Kassen betrifft Tausende Arbeitsplätze und Millionen Versicherte. Der Zusatzbeitrag kann zum Mitgliederschwund und zum finanziellen Desaster führen. 2012 verzichtet auch die KKH-Allianz wieder auf die Extraprämie. Für das kommende Jahr sind weitere Kassenfusionen geplant. Straub glaubt, dass die Zahl der Kassen am Ende dieses Jahrzehnts wohl unter 100 liegen werde. Derzeit sind es rund 150. "Das Finanzierungssystem bevorzugt größere Einheiten", meint der Kassenchef.

In Zukunft sollen die Patienten der gesetzlichen Kassen wie die der privaten die Abrechnung zwischen Arzt und Kasse einsehen können - im Internet. Straub sieht diese Transparenz positiv, schränkt aber ein: "Das Abrechnungssystem ist so unverständlich, dass kaum jemand durchschauen wird, was da abgerechnet wurde." Dass die Deutschen seltener zum Arzt gingen, wenn sie wüssten, was die Behandlung kostet, bezweifelt er: "Ich glaube nicht, dass dieses Vorhaben überhaupt eine Auswirkung auf die Kosten haben wird."

Einer der größten Kostentreiber ist die Pflege. Vor Verabschiedung der jüngsten Reform hat Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) in seiner Heimat im Münsterland praktisch alle Alten- und Pflegeheime besucht. In einem Mini-Kompromiss werden nun der Beitrag zur Pflegeversicherung um 0,1 Prozent erhöht und Verbesserungen für Demenzkranke versprochen. Bahr sagte dem "Münchner Merkur": "Die gesetzliche Pflegeversicherung ist nur eine Teilkaskoabsicherung und wird das auch bleiben. Ich bin aber zufrieden, weil künftig der besondere Betreuungsaufwand bei Demenz berücksichtigt wird. Zudem schaffen wir erstmals den Einstieg in eine private Vorsorge." Rot-Grün habe in sieben Jahren keine Pflegereform auf den Weg gebracht.

Bahrs Reform reicht Barmer-GEK-Chef Straub nicht: "Die große Aufgabe ist es, den Begriff der Pflegebedürftigkeit anzupassen, um die Versorgung der Demenzerkrankten zügig zu verbessern. Diese Erkrankung wird momentan in der Pflegeversicherung nicht angemessen berücksichtigt. Kritisch sehen wir den geplanten Einstieg in eine zusätzliche kapitalgedeckte Vorsorge. In der Pflegeversicherung bleibt das Umlageverfahren, also die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die richtige Finanzierungsform." Und die steigende Zahl alter Menschen in Deutschland wirke sich dramatisch aus: "Bis zum Jahr 2050 könnten die Beiträge wegen des Anstiegs der Pflegebedürftigen auf drei bis 3,5 Prozent ansteigen. Aber das ist auch aus Sicht der Gesundheitsökonomie erträglich", sagt Straub.

Nach dem neuen Konzept der SPD für eine Bürgerversicherung und den anhaltenden Plänen für eine Kopfpauschale im schwarz-gelben Regierungslager schaut Straub mit Spannung auf die Bundestagswahl 2013, nach der die Karten im Gesundheitswesen wieder neu gemischt werden dürften. Straub meint dazu: "Wir haben eine klare Position: Es ist medizinisch wie politisch unmöglich, eine Grund- oder Basisversicherung für alle zu formulieren und den Rest den Privaten zu überlassen. Die gesetzliche Krankenversicherung muss unter allen Umständen eine Vollversicherung bleiben."

Das ausführliche Interview mit Christoph Straub www.abendblatt.de/straub