Verfassungsgericht erklärt Europawahl-Sperrklausel für verfassungswidrig. Wäre Urteil vor 2009 gefallen, säßen Piraten und Republikaner in Straßburg.

Karlsruhe/Wiesbaden. Kleinere deutsche Parteien haben nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Chance, in das Europaparlament einzuziehen. Das oberste deutsche Gericht erklärte in einem am Mittwoch veröffentlichten Urteil die für Deutschland geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel bei den EU-Wahlen für verfassungswidrig und nichtig. Die Klausel benachteilige kleinere Parteien und verstoße gegen die im Grundgesetz verankerte Chancengleichheit der Parteien, hieß es in der Entscheidung, die mit fünf gegen drei Stimmen fiel. Die Wahl zum EU-Parlament im Jahre 2009 bliebe jedoch gültig und müsse nicht wiederholt werden. Zugleich stellten die Richter klar, dass bei Bundestagswahlen die Fünf-Prozent-Hürde weiter berechtigt sei.(Az.: 2 BvC 4/10 u.a.)

Urteil berührt nicht Bundestagswahlen

Anders als beim EU-Parlament müssten im Bundestag stabile Mehrheitsverhältnisse gebildet werden, die eine handlungsfähige Regierung wählen und sie fortlaufend unterstützen könnten, hieß es zur Begründung der unterschiedlichen Behandlung der Volksvertretungen. Das EU-Parlament wähle aber keine Regierung und die EU-Gesetzgebung sei nicht von einer stabilen Parlaments-Mehrheit samt Opposition abhängig.

Die Kläger – der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim und zwei Wähler – hatten in den Regelungen die Chancengleichheit kleinerer Parteien verletzt gesehen. Etablierte Parteien würden zulasten kleinerer Parteien von der Sperre profitieren, hatte Arnim in der mündlichen Verhandlung im Mai argumentiert. Denn sie erhielten proportional mehr Sitze im EU-Parlament, wenn kleinere Parteien scheiterten.

Dieser Argumentation folgten die Verfassungsrichter. Die Hürde sei beim EU-Parlament nicht zu rechtfertigen, hieß es. Bei der EU-Wahl 2009 seien aufgrund der Klausel rund 2,8 Millionen und damit zehn Prozent der gültig abgegebenen deutschen Wählerstimmen unter den Tisch gefallen, sagte Gerichtspräsident Andreas Vosskuhle in Karlsruhe. Diese Stimmen hätten keinen Erfolg gehabt, was eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit sei.

EU-Parlament bleibt funktionsfähig

Ohne Sperre würde das EU-Parlament anstatt aus 162 aus 169 Parteien bestehen, hieß es weiter. Aber auch mit sieben Parteien mehr bliebe die EU-Volksvertretung funktionsfähig. Denn die parlamentarische Arbeit werde dort hauptsächlich von Fraktionen erledigt. Diese integrierten erfahrungsgemäß eine große Bandbreite verschiedener politischer Strömungen und fänden in angemessener Zeit per Absprache zu Mehrheitsentscheidungen.

Die starren Listen für das EU-Parlament verletzen nach Ansicht des Verfassungsgerichts jedoch nicht das Wahlrecht der Bürger. Hier kann nur die gesamte Liste gewählt werden, der Wähler hat aber keinen Einfluss darauf, in welcher Reihenfolge die Kandidaten bei der Sitzverteilung zum Zuge kommen. Wie bei den nationalen Wahlen auch sei das nicht zu beanstanden.

Linkspartei: Fünf-Prozent-Hürde generell abschaffen

Die Linkspartei forderte als Konsequenz aus dem Urteil, auch bei Bundestagswahlen die Sperrklausel abzuschaffen. Dieses "undemokratische Relikt“ passe nicht in die zeit, verzerre Wahlergebnisse und verstärke Politikverdrossenheit, erklärte Bundesgeschäftsführer Werner Breibus.

Die Grünen begrüßten, dass das Verfassungsgericht auf Chancengleichheit der Parteien und den Grundsatz der Wahlrechtsgerechtigkeit abhebe. Dies sei ein Signal für den bevorstehenden Verfassungsstreit um Überhangmandate, erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer Volker Beck.

Der Verein Mehr Demokratie erklärte, ohne Fünf-Prozent-Hürde werde das taktische Wahlverhalten eingedämmt. Bisher hätten viele Wähler ihre Stimme eher etablierten Parteien gegeben aus Angst, sie ganz zu verschenken, wenn sie kleine Parteien ankreuzten, sagte Vorstandssprecher Michael Efler.

Kleinparteien unter fünf Prozent

Ohne die für verfassungswidrig erklärte Fünf-Prozent-Hürde wären bei der letzten Europawahl 2009 aus Deutschland zusätzlich folgende sieben Parteien in das Europäische Parlament eingezogen: Freie Wähler, Die Republikaner, Die Tierschutzpartei, Familien-Partei Deutschlands, Piratenpartei Deutschland, Rentner-Partei Deutschland und die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP). (Quelle: Bundeswahlleiter)

Mit Material von rtr und dpa