Der Euro-Rettungsschirm ist verabschiedet, die Koalition bleibt weiter unter Druck: Die Einigung in zentralen Reformfragen steht auf der Kippe.

Berlin. Die Abstimmung über die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms war noch gar nicht erfolgt, da sprach Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) schon von der Zeit danach. Wenn sich die Lage in Europa nachhaltig konsolidiert habe, dann werde die "solide politische und vor allem wirtschaftliche Verfassung dieser Republik wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein dringen", versprach Lammert bei "Spiegel Online". Es folgte die Abstimmung, die Kanzlermehrheit hielt, die befürchtete Koalitionsdebatte blieb aus. Zu regieren aus eigener Kraft - es funktionierte gestern im Bundestag. Und das "öffentliche Bewusstsein", von dem der Parlamentspräsident gesprochen hatte, konnte sich ab dem gestrigen Mittag entsprechend wieder neu justieren.

Seit der parlamentarischen Sommerpause waren der Koalition für eigene Initiativen auffallend wenig Raum geblieben. Dieser Raum ist nun wieder da, und mit ihm die schwarz-gelben Konflikte um Steuern, Pflege, innere Sicherheit und die Bundeswehrreform. Die Themen versprechen einen munteren Herbst.

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Der größte Krach droht den Koalitionären bei den geplanten steuerlichen Entlastungen der Bürger. Fallen sie zu gering aus, dürfte die FDP auf die Barrikaden gehen. Sollte die Einigung zu hoch ausfallen, droht das Veto von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Viel hängt von der Wachstums- und Steuerschätzung ab, die spätestens Anfang November bekannt wird. Der Rahmen ist allerdings gesteckt: fünf bis zehn Milliarden Euro soll die Entlastung den Bürgern bringen, und sichtbar soll sie werden, indem die kalte Progression abgemildert wird. Selbst wenn Schwarz-Gelb eine Einigung erzielt, droht ein Scheitern der Steuerpläne im Bundesrat. In seltener Einigkeit haben die schwarz, rot und grün regierten Länder ihr Veto angekündigt.

Es könnte wie so oft zuvor auf einen Handel hinauslaufen, um die Länder schlussendlich zufrieden zu stellen. In der FDP ist man auf ein Scheitern in der Länderkammer eingestellt und denkt bereits über die Abschaffung des Solidaritätszuschlags nach, der allein die Bundeskassen, aber nicht die Länderhaushalte füllt. Schon das Scheitern der geplanten Steuervereinfachungen im Bundesrat dürften Union und Liberale als Warnschuss verstanden haben. Doch würden CDU und CSU mal eben den Soli abschaffen, so wie es die FDP erwägt? FDP-Vize Volker Zastrow drohte bereits vorsorglich mit Koalitionsbruch, wenn die Einigung auf Entlastungen zum 1. Januar 2013 scheitert.

Die FDP will "liefern" in diesem Herbst. Beim Thema Steuern wird es schwierig, noch schwieriger aber bei der Pflegereform. Der liberale Gesundheitsminister Daniel Bahr musste die Vorstellung der Eckpunkte für seine erneuerte Pflegeversicherung zweimal verschieben - zuletzt auf unbestimmte Zeit. Union und FDP streiten darüber, welche Pflegeleistungen wie finanziert werden sollen, und ob und wie ein zusätzlicher Kapitalstock in die Pflegeversicherung aufgebaut werden soll. Für letztere Rücklage schlägt die CDU vor, dass jeder Versicherte pro Monat fünf Euro mehr zahlen soll. Die Liberalen wollen lieber eine individualisierte Zusatzversicherung einführen. Die Verhandlungen stocken. Bis Mitte Oktober, so heißt es nun, soll ein Kompromiss gefunden werden. Alle Seiten befürchten inzwischen das Zustandekommen einer Minireform, die vor allem eins wird: teurer.

Zu teuer ist aus Sicht der Bundesregierung vor allem die Bundeswehr. Doch ab wann Verteidigungsminister Thomas de Maizière mit seiner Bundeswehrreform erste Kostensenkungen vermelden kann, ist unklar. Teil eins der Reform, die Aussetzung der Wehrpflicht, ist zwar seit dem 1. Juli vollzogen. Doch der in der Nachfolge eingesetzte freiwillige Bundeswehrdienst bereitet der Truppe Sorgen: Zu wenig junge Leute wollen zur Bundeswehr. Und von denen, die angetreten sind, quittiert jeder fünfte Freiwillige bereits nach kurzer Zeit den Dienst. Von den 12 500 Freiwilligen, die de Maizière langfristig einplant, haben bislang weniger als ein Drittel den Weg zur Bundeswehr gefunden. Teil zwei der Reform birgt das weitaus größere Aufregungspotenzial: Am 26. Oktober will der Verteidigungsminister sein Stationierungskonzept vorstellen. Bis zu 60 der rund 400 Standorte stehen vor der Schließung, fürchtet die SPD. Auch könnte dann die Frage beantwortet werden, ob Bonn erster Dienstsitz des Ministeriums bleibt.

Genauso lange, wie das Verteidigungsministerium über seiner Reform brütet, streitet Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sich bereits mit CDU und CSU über die Vorratsdatenspeicherung. Seit das Bundesverfassungsgericht im März 2010 die alte Regelung aus Zeiten der Großen Koalition kippte, drängt die Union auf eine rechtskonforme Einführung einer vorsorglichen Speicherung von Telekommunikationsdaten und verweist auf eine verbindliche EU-Richtlinie. Die zuständige Ministerin will die Daten aber nur bei Verdachtsmomenten speichern lassen und sieht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Unions-Fraktionschef Volker Kauder hält die Justizministerin inzwischen in aller Offenheit für "ein Problem" - und auch er fordert eine Entscheidung in diesem Herbst.