Fast jede fünfte Familie im Land verzichtet aus Geldmangel auf Reisen. Vor allem Kinder von Alleinerziehenden sind von Armut bedroht.

Berlin. Auf die Frage, was er sich am meisten wünscht, weiß Max erst einmal keine Antwort. Der neunjährige Junge aus dem Berliner Stadtteil Hellersdorf schaut angestrengt auf den Boden und überlegt. Dann sagt er mit leiser Stimme: "Eine ganz normale Familie." Normal? "So mit Mama und Papa zusammen, und dass wir alle mal gemeinsam in den Urlaub fahren."

Das Kind, das bei seiner alleinerziehenden Mutter aufwächst, wünscht sich eine durchschnittliche Familie. Nur was überhaupt der Durchschnitt ist, das ist immer schwieriger zu bestimmen.

Die Chefstatistiker des Landes haben in diesem Jahr erstmals alle relevanten Zahlen und Daten zusammengetragen, die zeigen sollen, wie Umwelt und Alltag von Kindern heute aussehen. Die Studie "Wie leben Kinder in Deutschland?", die das Statistische Bundesamt gestern in Berlin präsentierte, geht unter anderem der Frage nach, wie sich die Zahl der Kinder verändert hat und in welcher familiären und wirtschaftlichen Situation diese leben. Die Ergebnisse der nüchternen Faktensammlung sind dramatisch.

Vor allem zwischen Ost- und Westdeutschland ist ein wachsendes Gefälle zu beobachten. Während im Westen Deutschlands seit dem Jahr 2000 die Zahl der Kinder um zehn Prozent sank, fiel der Rückgang im Osten mit 29 Prozent deutlich gravierender aus. Dort lebten 2010 nur noch ungefähr 2,1 Millionen Minderjährige - 837 000 weniger als noch vor zehn Jahren. An einem Mangel an Betreuungsangeboten kann der Geburtenrückgang im Osten nicht liegen. Denn gerade dort sind die Betreuungsangebote für Kinder weitaus größer als im Westen. Besonders für die unter Dreijährigen hat der Ausbau der Plätze in Kindertageseinrichtungen und bei Tagesmüttern zugenommen. Deutschlandweit liegt die Betreuungsquote bei 23,1 Prozent. Spitzenreiter im bundesweiten Vergleich ist Sachsen-Anhalt mit einer Quote von 56 Prozent - dort wird jedes zweite Kind unter drei Jahren tagsüber nicht von den Eltern betreut. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern folgen mit jeweils 51 Prozent.

Auch insgesamt kommt Deutschland der Nachwuchs abhanden. Nur noch 16,5 Prozent der mehr als 81 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind jünger als 18 Jahre. Allein in den vergangenen zehn Jahren sank die Zahl der Minderjährigen um 2,1 Millionen auf 13,1 Millionen. "Deutschland ist das kinderärmste Land in Europa", sagt Roderich Egeler, Präsident des Statischen Bundesamts. Zum Vergleich: Im Nachbarland Frankreich liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung bei mehr als 22 Prozent. Großbritannien, die Niederlande sowie die skandinavischen Länder kommen auf einen Anteil von über 20 Prozent. Die meisten Kinder und Jugendlichen leben nach diesen Zahlen in der Türkei. Fast jeder dritte (31,2 Prozent) der über 72 Millionen Türken ist jünger als 18 Jahre.

Auch bei der familiären Konstellation, in der ein Kind aufwächst, herrscht ein großer Unterschied zwischen Ost und West. Während ein Kind im Westen in 79 Prozent der Fälle in "klassischen Familienverhältnissen" bei verheirateten Eltern aufwächst, leben Kinder im Osten häufiger bei ihren unverheirateten Eltern oder nur bei einem Elternteil. In den neuen Bundesländern beträgt der Anteil der Kinder, die von verheirateten Eltern großgezogen werden, nur 58 Prozent. "Die alleinerziehende Lebensform ist diejenige, die im Osten am stärksten wächst", sagte Julia Weinmann, Referentin des Statistischen Bundesamts, bei der Vorstellung der Studie.

Gleichzeitig seien die Kinder in den neuen Bundesländern oft stärker armutsgefährdet als im Westen. Zwar sind Kinder in Deutschland laut dem aktuellen Bericht des Statistischen Bundesamts nicht stärker armutsgefährdet als der Durchschnitt der Bevölkerung. Demnach waren in Deutschland 15,5 Prozent der Bevölkerung vom Armutsrisiko betroffen. Für Kinder liegt diese Quote bei exakt 15 Prozent. Doch der Unterschied in den verschiedenen Familienstrukturen ist hier gravierend: Kinder, die in Haushalten von Alleinerziehenden leben, haben das größte Risiko, Armut zu erleben - bei diesen Haushalten lag der Anteil armutsgefährdeter Personen im Jahr 2008 bei 37,5 Prozent und damit fast dreimal so hoch wie bei Personen in Haushalten mit Kindern insgesamt. Da in den neuen Bundesländern deutlich mehr Kinder bei alleinerziehenden Eltern aufwachsen als im Westen, spielen somit auch die materiellen Unterschiede zwischen Westdeutschland und dem Osten der Republik eine große Rolle.

Insgesamt lebten Ende 2010 nach den Angaben der Statistiker 1,96 Millionen Kinder unter 18 Jahren in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. Besonders häufig waren auch hier die Kinder von Alleinerziehenden betroffen. Bei jedem dritten Kind in dieser Gruppe sind staatliche Hilfen die Haupteinkommensquelle der Familie. Leben Kinder in Paarfamilien, sind Transferzahlungen deutlich seltener die hauptsächliche Quelle des Lebensunterhalts. Bundesweit gaben sieben Prozent der Familien mit Kindern unter 16 Jahren an, ihrem Nachwuchs aus finanziellen Gründen keine regelmäßige Freizeitbeschäftigung wie Sport oder Musizieren ermöglichen zu können. 22 Prozent klagten darüber, wegen Geldmangels auf eine jährliche Urlaubsreise verzichten zu müssen.

Max aus Berlin war noch nie mit seiner Mutter im Urlaub. Dafür hat die Hartz-IV-Empfängerin kein Geld. Was er sich als normale Familie vorstellt, mit Papa und Mama gemeinsam in den Urlaub fahren, wird für ihn wohl erst einmal ein unerfüllter Wunsch bleiben. Dafür hat Max schon eine sehr genaue Vorstellung von seiner Zukunft. "Ich bin verliebt und werde bald heiraten", erzählt der Neunjährige. Deshalb möchte er auch möglichst bald in eine eigene Wohnung ziehen. Denn Max hat einen großen Plan gefasst: "Ich will selbst Kinder bekommen", sagt er entschieden. "Am besten zwei." Mit ihnen, erzählt er, wird er dann auch in den Urlaub fahren. "So oft wie ich kann."