Experten sind uneins, ob das Problem wirklich existiert. Die Bundesregierung berät die Anwerbung qualifizierter Ausländer

Berlin. Es ist ein neuer Anlauf zur Lösung einer alten Frage: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Mitglieder des Bundeskabinetts und Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern kamen gestern zusammen, um Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel zu verabreden. Schon am Vormittag hatte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ein neues Konzept präsentiert. Demnach sollen bürokratische Hürden abgebaut werden, um Ärzte und Ingenieure ab jetzt einfacher aus dem Ausland anwerben zu können. Auch die Förderung von nicht erwerbstätigen Frauen, Älteren und Jugendlichen soll vorangetrieben werden.

Doch das Thema Fachkräftemangel ist umstritten. Die Unternehmen hätten selbst Schuld, sagen die einen. Andere bestreiten, dass es das Problem überhaupt gibt. Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen:

IT-Spezialisten oder Friseure - wann bin ich eine Fachkraft?

"Eine Fachkraft ist jeder Mensch, der eine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Also auch Köche oder Einzelhandelskaufleute", erklärt der Sozialwissenschaftler Lars Niggemeyer im Gespräch mit dem Abendblatt. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, in der sich Wissenschaftler für eine arbeitnehmerfreundliche Wirtschaftspolitik einsetzen, und arbeitet für den Deutschen Gewerkschaftsbund in Niedersachsen. "Es geht um die übergroße Mehrheit der Arbeitnehmer, und nicht nur um Hochqualifizierte wie Ärzte oder Ingenieure."

Wie gravierend ist das Problem für die Unternehmen?

Wie sich das Problem in Zukunft darstellen wird, lässt sich nicht sicher prognostizieren. Die Kanzlerin wies gestern darauf hin, dass wegen der demografischen Entwicklung in den nächsten 15 Jahren die Zahl der Erwerbspersonen um rund 6,5 Millionen abnehmen werde. Vor allem der Wirtschaft brennt das Thema unter den Nägeln: Aktuell habe der Fachkräftemangel in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik bereits einen Rekord erreicht, rechnen Berufsverbände vor: 150 000 Qualifizierte sollen hier bereits fehlen. Der Verband der Ingenieure meldete im Mai eine Lücke von 73 100 Fachkräften. Die Bundesagentur für Arbeit sieht einen Mangel vor bei den Ingenieuren und Ärzten sowie in den Gesundheits- und Pflegeberufen.

Ist der Aufschwung in Deutschland durch den Fachkräftemangel in Gefahr?

Die Wirtschaft schlägt Alarm: Rund zehn Milliarden Euro habe uns der Fachkräftemangel in den vergangenen zwölf Monaten gekostet, so das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln.

Andere Schätzungen gehen von bis zu 30 Milliarden Euro aus, die der Wirtschaft so in diesem Jahr entgehen werden. Anders sieht es Heiner Minssen vom Institut für Arbeitswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum: "Sicher ist es so, dass Unternehmen nicht ausreichend qualifizierte Bewerber für ihre Stellen finden. Vielleicht führt dies auch dazu, dass Firmen einige Aufträge nicht annehmen können oder die Mitarbeiter viele Überstunden machen müssen. Dennoch wird es aus meiner Sicht nicht zu einem signifikanten Anstieg der Wirtschaftsleistung in Deutschland kommen, wenn alle Stellen besetzt sind", sagte der Professor dem Abendblatt.

Wieso gibt es bei uns nicht genug Fachkräfte?

Es gebe einerseits zu wenig lernwillige Jugendliche, meint Arbeitswissenschaftler Minssen. Doch andererseits sei der Fachkräftemangel auch hausgemacht. "Viele Unternehmen sehen Ausbildung und Fortbildung vor allem als Kostenfaktor. Es wird deutlich zu wenig in Ausbildung investiert. Zudem akzeptieren etliche Unternehmen, vor allem in der Automobilindustrie, keine Bewerber für Lehrstellen, die nur einen Hauptschulabschluss haben." Manchmal würden sogar Realschüler abgelehnt, fügt Minssen hinzu.

Sozialwissenschaftler Niggemeyer sieht das ähnlich: "Wenn die Unternehmen wirklich Fachkräfte brauchen, können sie sie auch einfach ausbilden. Letztes Jahr landeten mehr als 320 000 Jugendliche in den Warteschleifen und Ersatzmaßnahmen des sogenannten 'Übergangssystems' ohne Aussicht auf eine echte Berufsausbildung. Das Potenzial für mehr Fachkräfte ist da."

Wie passt der Fachkräftemangel zu mehr als drei Millionen Arbeitslosen?

Gar nicht, so Experte Niggemeyer. "Einen generellen Fachkräftemangel gibt es nicht - denn das würde bedeuten, dass es in den meisten Berufen mehr freie Stellen als Arbeitssuchende gibt", sagt er. Das sei aber nur in ganz wenigen Bereichen der Fall, etwa bei Ärzten. "In anderen Bereichen gilt das nicht. Im vergangenen Jahr kamen insgesamt auf jede freie Stelle acht Arbeitslose.

Allein bei den Ingenieuren gab es im Mai 2011 rund 22 000 Arbeitslose - viel mehr, als offene Stellen gemeldet sind." Der Arbeitsmarkt unterliege dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Für die Unternehmen sei die hohe Arbeitslosigkeit eine komfortable Situation, weil sie sich die Arbeitskräfte mit dem niedrigsten Preis aussuchen könnten - weshalb die Löhne in den letzten zehn Jahren kaum gestiegen seien.

"Vor einem Fachkräftemangel warnen die Unternehmen vor allem, weil sie auch künftig auf ein Überangebot an Arbeitskräften zurückgreifen wollen."