Der Bundesnachrichtendienst beginnt zögerlich damit, die Vergangenheit aufzuarbeiten

Hamburg. Nein, Gregor Schöllgen möchte nichts mehr zu den Archiven sagen. Er habe mit dem Thema abgeschlossen, sagt der Erlanger Geschichtswissenschaftler heute. Zwei Jahre lang hat Schöllgen mit dem Bundesnachrichtendienst über ein spektakuläres Vorhaben verhandelt: Ein Team von Geschichtswissenschaftlern sollte die Archive des Geheimdienstes erforschen. Nach langen Debatten unter anderem darüber, welche Akten er ansehen sollte, warf Schöllgen 2008 entnervt hin. "Die Bestände des BND-Archivs sind noch weit von einer Erfassung entfernt", schrieb er später frustriert in der "Süddeutschen Zeitung".

Nun aber ist es so weit: Seit März hat eine vierköpfige Historikerkommission Zugang zum BND-Archiv im bayerischen Pullach. Von einem "ganz wesentlichen Schritt" spricht Kommissionsmitglied Klaus-Dietmar Henke. "Die Öffnung der Archive hilft uns dabei, die ersten zwei Jahrzehnte der Bundesrepublik und auch der DDR viel besser zu verstehen." Und sie zeige, dass ein Nichtaufarbeiten der Geschichte auch für einen Geheimdienst keine Option mehr sei. Es ist eine Historie, die nicht nur weitgehend unerforscht ist, sondern auch voller dunkler Flecken zu sein scheint.

Die Geburtsstunde des Dienstes schlägt im Jahr 1945. Wenige Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ergibt sich Reinhard Gehlen den amerikanischen Truppen. Gehlen, ein hagerer Mann mit hoher Stirn, hat den Siegern einiges zu bieten: Während des Krieges leitete der Wehrmachtsgeneral eine Nachrichtentruppe, die jahrelang Informationen über Stalins Rote Armee sammelte. Nun verfügt er über Informanten im Osten und über Daten, die er, in Kisten verpackt, in einigen bayerischen Almwiesen vergraben hat. Die USA, misstrauisch gegenüber den sowjetischen Alliierten, zögern nicht lange. Sie beauftragen den Ost-Experten mit der Gründung eines deutschen Geheimdienstes, zuerst "Operation Rusty" genannt, später "Organisation Gehlen". 1956 tauft man die Truppe in Bundesnachrichtendienst um. Erst 1968 geht Gehlen, Codename "Doktor Schneider", in den Ruhestand.

Wie man heute aus anderen öffentlich gewordenen Unterlagen weiß, hat der BND im aufkommenden Kalten Krieg zahlreiche Militärs und Polizisten aus Zeiten des Dritten Reichs übernommen - ohne sie auf demokratische Gesinnung oder kriminelle Vergangenheit zu prüfen. So beschäftigte er zeitweilig den als "Schlächter von Lyon" berüchtigten SS-Offizier Klaus Barbie als Informanten; der SS-Mann Karl Josef Silberbauer, der an der Verhaftung Anne Franks beteiligt war, fand hier einen neuen Job. Überdies wusste der Nachrichtendienst bereits seit 1952, dass sich der Mitorganisator der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, in Argentinien versteckt hielt. Erst 1958 unterrichtete man die amerikanische CIA, nicht jedoch israelische Behörden, die nach Eichmann fahndeten. Historiker vermuten, die damalige Bundesregierung habe Eichmann nicht enttarnen wollen. Kanzler Konrad Adenauer habe befürchtet, Eichmann werde seinen Staatssekretär im Kanzleramt, Hans Globke, belasten. Während der NS-Zeit war Globke Ministerialrat im Reichsinnenministerium gewesen.

Dass nun Forscher diese Geschichten aufarbeiten können, geht auf den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau zurück. "Ich habe ein vitales Interesse daran, die Frühgeschichte des Dienstes transparent zu machen", sagt Uhrlau dem Hamburger Abendblatt. Er räumt aber ein: "Das Öffnen der Archive ist ein nicht ganz einfacher Prozess." Seit seinem Amtsantritt 2006 möchte der gebürtige Hamburger Licht in die Vergangenheit bringen. Berichten zufolge soll sich das Kanzleramt gegen diesen Wunsch zunächst gesperrt haben. Mit der Furcht der Spione vor der eigenen Vergangenheit habe der mühselige Öffnungsprozess nichts zu tun, versichert Uhrlau. "Die Tatsache, dass der BND von sich aus ein umfassendes Projekt zur Aufarbeitung seiner Entstehungs- und Frühgeschichte durch eine unabhängige Historikerkommission lanciert hat, macht deutlich, dass dieser Verdacht unbegründet ist."

Es gehe bei der Arbeit der Kommission "natürlich auch um personelle Kontinuitäten auch aus der NS-Zeit", sagt Uhrlau. Doch ihn interessiert noch mehr. "Wie war etwa das Verhältnis zwischen den BND-Verantwortlichen und der Regierung von Bundeskanzler Adenauer? Wie verliefen die Konflikte über die Wiederbewaffnung und die deutsche Souveränität?" Das seien spannende Fragen, findet der Behördenchef.

Aus dem Geheimdienst selbst heißt es, eine Übersicht über die Unterlagen falle schwer, weil viele auf Mikrofilm gebracht und dann vernichtet worden seien. Historiker Henke gibt nun Entwarnung. Die Akten, die man vorgefunden habe, seien in einem überraschend guten Zustand. "An unzureichendem Material wird eine Aufarbeitung sicher nicht scheitern", freut sich Henke. Die Forscher wollen als Nächstes die Profile Hunderter BND-Mitarbeiter auswerten. Henke ist zuversichtlich, dass die Wissenschaftler "vielleicht in zwei Jahren" etwas Substanzielles zum Thema NS-Vergangenheit sagen können.

Erforscht werden soll ausschließlich die Amtszeit Gehlens, also die Jahre bis 1968. Man habe schon viele Dokumente an das Bundesarchiv abgegeben, berichtet Präsident Uhrlau. "Wir sind bei der Offenlegung aber auch an gewisse Regularien wie das Bundesarchivgesetz gebunden." Dabei spiele beispielsweise auch die Wahrung von Persönlichkeitsrechten und des Quellenschutzes eine Rolle. "Und auch bei Material von Partnerdiensten müssen wir vorher klären, ob wir es freigeben dürfen." Die neue Transparenz der Spione hat ihre Grenzen. Doch der erste Schritt in die Vergangenheit ist gemacht.