Er war Möllemanns Stellvertreter im NRW-Landtag. Heute ist Stefan Grüll bekennender Nichtwähler und fordert Politiker zu mehr Demut auf

Berlin. An welchem Tag es genau passierte, weiß Stefan Grüll heute nicht mehr. Erinnern kann er sich nur noch an das Gefühl. Es war irgendwann da, vor acht oder neun Jahren. Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Bonn-Bad-Godesberg saß Grüll damals im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Eine Erdrutschwahl war die Landtagswahl im Mai 2000 für die FDP gewesen. 9,8 Prozent der Stimmen hatten die Liberalen ins Düsseldorfer Parlament und Grüll in seinen neuen Job als Berufspolitiker gespült. Eigentlich hatte er es geschafft: Fraktionsvize unter einem Chef mit dem Namen Jürgen Möllemann, Mitglied im Finanzausschuss.

Doch irgendetwas stimmte nicht. Immer häufiger empfand Grüll seine Arbeit als frustrierend. Der Idealismus, den er aus jahrelanger ehrenamtlicher Arbeit in der Kommunalpolitik kannte, ging verloren. "Es war enttäuschend, dass Abgeordnete aller Parteien viel zu selten nach Inhalt und Überzeugung abgestimmt und dafür viel zu oft einer kruden Fraktionsdisziplin gefolgt sind", sagt Grüll heute. "Das galt zu lange auch für mich." Nur manchmal hat er sich die Freiheit genommen, auch mal Mehrheiten jenseits von Partei und Fraktion zu suchen.

Ein Signal sollte das dann sein. Ein Zeichen, dass es auch anders gehen kann. Vielleicht auch eine Trotzreaktion, aus der heute, viele Jahre später, ausgewachsenes Protesttum geworden ist. Gegen die Parteien und gegen selbstgefällige Politiker. "Nicht aber gegen die Demokratie", sagt Grüll. Das ist ihm wichtig. Zwar ist er bekennender Nichtwähler - aber auch ein "engagierter Demokrat", wie er es selber nennt.

Die erste Enthaltung war schwer für ihn. 2009 blieb er erst bei der Europawahl im Juni und dann auch bei der Bundestagswahl Ende September zu Hause - und zwar als einer von vielen: Zählt man alle Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2009 zusammen, kommt man auf gute 18 Millionen. Für keine der Parteien haben so viele Menschen gestimmt. Die Nichtwähler sind sozusagen die stärkste Kraft.

2011 ist ein Superwahljahr. Sieben Landtage werden neu gewählt, als Erstes die Hamburgische Bürgerschaft am 20. Februar. Dazu kommen ein paar Kommunalwahlen. Dass man jetzt aus allen Parteien hört, man müsse nun vor allem die Nichtwähler mobilisieren, zeigt die Angst davor, dass es ähnlich laufen könnte wie 2009. Dass wieder Millionen Menschen an den Wahlsonntagen zu Hause bleiben.

Das Problem, sagt Grüll, sei die Arroganz der Politiker. "Sie stützen sich vielleicht auf die Mehrheit im Parlament - aber doch nicht auf die Mehrheit der Bevölkerung." Was er fordert, sind Demut und Selbstreflektion. Und er tut das mit Hingabe. Schreibt Leserbriefe, geht in Talkshows, hat einen eigenen Polit-Blog im Internet. Er ist zwar raus aus der Politik, aber noch immer irgendwie drin.

Grüll, 49 Jahre alt und promovierter Rechtsanwalt mit Hornbrille, will eine Systemveränderung. Warum sollten die Bürger nicht Einfluss auf die Zusammensetzung von Listen haben? Und warum werden Posten nicht in erster Linie nach Kompetenz, sondern nach irgendwelchen Proporz- und Regionalschlüsseln verteilt? Transparenz und Öffnung müssen her, findet Grüll. Mehr Elemente direkter Demokratie. Und wenn die Parteien nicht wollen, muss man sie eben dazu zwingen. Notfalls mit weniger Geld aus dem Topf der staatlichen Parteienfinanzierung. Einer von Grülls Lieblingssätzen geht so: "Es gibt ein Recht auf Wahl, aber kein Recht, gewählt zu werden. Wer gewählt werden will, muss sich um die bemühen, die ihn wählen sollen."

Was er sich da vorgenommen hat, ist wie ein Kampf gegen Windmühlen. Nicht wählen, das gilt schließlich als ignorant. "Sofa-Partei" nennt man die Nichtwähler auch, die Faulen und die Desinteressierten. Auf der anderen Seite steht eine starke Wählerfront: 2009 haben Showstars, Schauspieler und Schriftsteller in großen Anzeigen verkündet: "Ich gehe wählen!" Privatsender haben mit Gesichtern aus dem Abendprogramm eine eigene Kampagne gestartet. "Es ist gut, eigene Entscheidungen auch mal selbst in die Hand zu nehmen", sagt Moderator Stefan Raab in einem der Spots.

Entscheidungen. Dass der Wähler sie derzeit tatsächlich fällen kann, bezweifelt Grüll. Das gibt das System für ihn nicht her.

Wer nicht wählen geht, so heißt es gemeinhin, dürfe hinterher auch nicht meckern. "Blödsinn", sagt Grüll. "In vielen von uns schlummert ein Kreativpotenzial, das die Parteien schlichtweg ignorieren." Politikverdrossen. Auch das sagt man, wenn man von den Nichtwählern spricht. Parteienverdrossen ist für Grüll der richtige Begriff.

Sein Dasein als Berufspolitiker dauerte nur eine Legislaturperiode - also bis 2005. Nach dem Tod seines Mentors Möllemann ging auch die politische Karriere von Stefan Grüll zu Ende. Angefangen hatte sie jedoch in einer Sternstunde des politischen Engagements. Damals, 1972. Das war etwas, der Willy-wählen-Wahlkampf, der schließlich mehr als 90 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen lockte. Sicher, es war auch die Zeit der großen Themen. Ostpolitik. Stefan Grüll, damals elf Jahre alt, begann, Interesse für Politik zu entwickeln.

Er trat 1983 in die FDP ein, Kreisverband Bonn - derselbe, indem auch der jetzige Parteichef Guido Westerwelle seine politische Karriere begonnen hat. Grüll hat sich hochgearbeitet bis zur Wahl 2000, als die FDP aus der außerparlamentarischen Opposition heraus in den Landtag einzog. "Das war Emotion pur", erinnert sich Grüll.

Und dann fing es an, das ungute Gefühl, das über die Jahre für ihn zur Erkenntnis wurde. Am fünften Todestag von Jürgen Möllemann, am 5. Juni 2008, gab Grüll sein Parteibuch zurück. Heute ärgert Grüll sich oft über die Politik und den Zirkus in Berlin. Manchmal ist er wütend. Damit ist er nicht allein: "Wutbürger" ist das Wort des Jahres 2010. Es beschreibt die Empörung der Bevölkerung darüber, "dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden", heißt es in der Begründung. Das wichtigste Beispiel dafür sei Stuttgart 21. Das Bahnhofsprojekt, dazu Gorleben, Proteste gegen die Schulpolitik des Senats in der Hansestadt: Deutschland ist auf die Straße gegangen. "Es waren ja keine Anarchos, die da demonstriert haben", sagt Grüll, "es waren Familien, Rentner, Gutsituierte." Es ging ihnen nicht um links oder rechts, es ging um "die da oben". Demonstrieren ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Grüll sagt: nicht wählen auch.