Experten bemängeln Regierungspläne. Ex-Arbeitsminister Scholz: “Das kann nicht gut gehen“

Berlin. Juristen, Experten und Politiker zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Hartz-IV-Reform der Bundesregierung. In einer Anhörung des Bundestages sagte gestern der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert auf die Frage, ob die Berechnung der Regelsätze den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspreche: "Nach meiner Überzeugung läuft der Gesetzgeber ins offene Messer." Je tiefer man in die Details des Gesetzentwurfs einsteige, "desto größer werden die Zweifel". Er sehe keine andere Möglichkeit, als das Gesetz erneut beim Bundesverfassungsgericht vorzulegen.

Die Regierung plant zum Jahresbeginn 2011 eine Reform von Hartz IV. Neben einer Anhebung des Regelsatzes für Erwachsene ist eine bessere Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Hartz-IV-Familien geplant. Sie sollen zusätzliches Geld für Schulmaterialien, warmes Mittagessen in Schulen und Kitas oder Kurse bei Sport- und Musikvereinen bekommen. Solche Zuschüsse sollen auch an rund 300 000 Kinder von Geringverdienern gehen, die Anspruch auf den Kinderzuschlag haben. Diesen erhalten erwerbstätige Eltern, deren Einkommen für die Versorgung ihrer Kinder nicht ausreicht.

Einhellig kritisierten Experten und Sachverständige während der Anhörung, dass die versteckte Armut in Deutschland weiter in die Berechnung der Regelsätze eingeht, obwohl das Bundesverfassungsgericht Abhilfe verlangt hat. Mehrere Sachverständige zweifelten die Wirksamkeit des geplanten Bildungspakets für Kinder an, begrüßten aber das Anliegen, in die Bildung von Kindern aus armen Haushalten zu investieren. Der ehemalige Bundesarbeitsminister und stellvertretende Vorsitzende der SPD, Olaf Scholz, sagte dem Abendblatt, es sei nicht verwunderlich, wenn Juristen und viele andere Experten Kritik an der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils durch die Bundesregierung übten. "Die Bundesregierung hat die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nur sehr unvollständig beachtet", so Scholz, "das kann nicht gut gehen."

SPD-Parteivize Manuela Schwesig kündigte an, ihre Partei werde die Zustimmung zum Hartz-IV-Gesetz in Bundestag und Bundesrat verweigern. Das geplante Teilhabepaket für Kinder sei "in Wahrheit ein Päckchen". Die Sozialdemokraten fordern, dass deutlich mehr Kinder als geplant von der Extraförderung für Bildung und Freizeitaktivitäten profitieren. Zusätzlich zu den Jungen und Mädchen aus Hartz-IV-Familien und den Familien, die Anspruch auf einen Kinderzuschlag haben, müsse das Geld auch an Kinder von Wohngeldempfängern fließen. Dies beträfe laut SPD rund 140 00 Kinder zusätzlich. Der Paritätische Wohlfahrtsverband unterstützte die Forderungen. Was die Regierung plane, sei nach wie vor "Verfassungsbruch", sagte Verbandshauptgeschäftsführer Ulrich Schneider.

Einer der führenden Experten für die Grundsicherung für Arbeitssuchende, der Sozialrechtler Johannes Münder, sagte, es gehe um viele kleine Punkte, die in der Summe verfassungsrechtlich bedenklich seien. Vor allem basierten zahlreiche Berechnungen auf zu dünner statistischer Grundlage. Dies mache besonders die Berechnung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche angreifbar. Sie beruhten zum Teil auf Sonderauswertungen, "die statistisch nicht valide sind".