Ghaffar Hussain war Islamist - und schaffte den Absprung

Wiesbaden. Bis zu 4,3 Millionen Muslime leben in Deutschland. Unter ihnen bewegen sich laut Verfassungsschutz 36 270 Islamisten, zu denen auch dem Bundeskriminalamt zufolge 131 "Gefährder" - potenzielle Terroristen - gehören. Doch wieso werden manche Muslime überhaupt zu gewaltbereiten Islamisten, gar zu Attentätern? Spätestens seit dem 11. September 2001 bemühen sich Sicherheitsexperten aus aller Welt zu verstehen, wo die Wurzeln für die Radikalisierung liegen. Ghaffar Hussain kennt die Antwort nur zu gut. Denn der Brite war bereits auf dem Weg, zum Fanatiker zu werden.

Auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamts berichtete Hussain, wie auch Kinder aus vermeintlich integrierten, unauffälligen Einwandererfamilien plötzlich zu Glaubensfanatikern werden können. Als in Großbritannien geborener Sohn pakistanischer Einwanderer wurde Hussain wegen seiner Hautfarbe früh zum Außenseiter. "Bereits als Kind war ich oft in Schlägereien verwickelt und musste mich oft verteidigen." Doch weder sein Elternhaus noch seine Religion hätten ihm Halt geboten. "Meine Eltern hatten Angst vor der Welt da draußen, und beim Koranunterricht haben wir arabische Koranverse auswendig gelernt, ohne ihren Sinn zu begreifen."

Wie zahlreiche Einwandererkinder stolperte Hussain in eine Identitätskrise. Als er Anfang der 90er-Jahre eine Moschee betrat, hörte er plötzlich keine religiöse Predigt, sondern eine politische Ansprache. "Da hieß es, wir Muslime sind Opfer, unsere Frauen werden vergewaltigt, die USA und Großbritannien sind unsere Feinde", berichtet Hussain. Keiner dieser Hassprediger sei religiös gewesen, doch sei es ihnen gelungen, ihre Argumente islamisch aussehen zu lassen.

Sehr mächtig sei diese neue Ideologie plötzlich gewesen, sagte Hussain, denn sie versorgte ihn mit einem Instrument, mit dem sich Weltereignisse wie die Tötung von Muslimen im Bosnien-Krieg leicht interpretieren ließen. Erst als er nach mehreren Jahren ein Politikstudium aufnahm, begriff er, dass es sich bei den Predigten nicht um Religion, sondern um Politik gehandelt habe. Heute reist Hussain für die britische Quilliam-Stiftung durch die Welt und versucht, junge Muslime zu überzeugen, dass es sich bei islamistischen Theorien um Politik, nicht um das Wort Gottes handele.

Identitätskrisen wie die von Ghaffar Hussain sind laut dem Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King's College eine Bedingung, damit aus friedlichen Gläubigen Extremisten werden können. "Dieser Unmut schafft ein Vakuum, das mit einer neuen Idee gefüllt werden kann", so Neumann. Komme die Person in dieser Zeit mit einer Ideologie in Kontakt, bestehe die Gefahr der Radikalisierung. "Denn die Ideologie beschreibt das Problem und auch das, was zu tun ist." Gefährlich wird es, wenn diese Weltanschauung besagt, dass sie von außen bedroht wird und verteidigt werden muss.

Laut einer Studie des Bundeskriminalamts hängt eine Radikalisierung oft vom privaten Umfeld ab, beispielsweise von einem gescheiterten Berufseinstieg oder von Gewalt in der Familie. "Die Ideologie selbst spielt eine geringere Rolle bei der Radikalisierung als bisher angenommen", stellt BKA-Chef Jörg Ziercke fest. Der Übergang zum Terroristen erfolge ungeplant, gefördert durch eine bestimmte politische Entwicklung, durch Medienberichte über Anschläge und eine günstige Tatgelegenheit. Nötig sei daher eine Kooperation zwischen Ermittlern und Verbänden, Kommunen und Geistlichen. Aber auch die Integration von Einwanderern spiele eine Rolle, sagt Ziercke: "Es ist entscheidend, dass sich Menschen in einer Gesellschaft aufgenommen fühlen."