Zehnmal so viel gefährliche Körperverletzung wie vor 20 Jahren.

Noch ist es eine Ausnahme, dass eine Frau Amok läuft und wahllos auf Menschen schießt. Schwere Gewaltverbrechen werden überwiegend von Männern begangen. Doch Forscher wie Frank Robertz, Leiter des Instituts für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie in Berlin, stellen besorgt fest: "Die Gewalt von Mädchen nimmt in letzter Zeit doppelt so stark zu wie die von Jungen." Kommt da ein neues Problem auf die Gesellschaft zu?

Vor allem bei Amokläufen sind bisher fast immer Männer die Täter. "Bei einem Amoklauf geht es dem Täter darum, seinen eigenen Selbstmord zu inszenieren. In den seltensten Fällen geht es um eine Affekthandlung, sondern das Ganze wurde in der Fantasie Hunderte Male durchgespielt", sagt der Essener Kriminalpsychologe Christian Lüdke. "Der Täter plant, sich am Ende umzubringen oder erschossen zu werden. Die Statistiken zeigen, dass Männer dreimal häufiger Selbstmord begehen als Frauen."

Einer der seltenen Amokläufe durch eine Frau spielte sich Weihnachten 1996 ab. Eine psychisch gestörte Frau zündete mehrere Handgranaten in einer Kirche in Frankfurt/Main. Zwei Schwestern kamen, ebenso wie die Attentäterin, ums Leben. Im Mai 2009 konnte in einem Gymnasium bei Bonn in letzter Sekunde eine Sprengstoffexplosion verhindert werden - geplant von einer 16-jährigen Schülerin, die später zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.

Bisher sind das Einzelfälle, sagt Robertz, "weil Frauen sehr viel besser in der Lage sind, Schutzfaktoren gegen Gewaltanwendung aufzubauen als Männer". Das können gute Beziehungen zu sozialen Bezugspersonen sein oder die Eingebundenheit in Gruppenstrukturen. Robertz: "Kriminologisch betrachtet gehören emotionale Beziehungen zu den wesentlichsten gewaltpräventiven Faktoren überhaupt. Je mehr emotionale Beziehungen zu prosozial handelnden Bezugspersonen vorliegen und umso intensiver sie sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit gewaltsamen Handelns."

Natürlich spielten auch die Erziehung und damit Identifikationsfiguren eine wichtige Rolle. Robertz: "Und hier wird es problematisch, weil wir unserer Jugend zunehmend gewalttätige Frauen als Identifikationsobjekte vorstellen." Zum Beispiel? "Ein Blick auf die Plakate jüngerer Blockbuster-Kinofilme spricht hier Bände", sagt Robertz. "Frauen gehen darin zunehmend waffenstarrend auf Monsterjagd. Für einige Mädchen wird damit Gewalt zu einer Handlungsoption, die sich mit Weiblichkeit verbinden lässt."

Robertz, Autor des Buches "Kriegerträume" (Herbig Verlag 2010), sagt, dass Gewalt zwar noch immer vor allem ein Phänomen junger Männer ist. Aber die jüngsten Zahlen seien alarmierend. Laut Kriminalstatistik 2009 betrug der Anteil von Mädchen und jungen Frauen bis 21 Jahre an der Gesamtzahl der Tatverdächtigen für Körperverletzungsdelikte 18,3 Prozent, für gefährliche und schwere Körperverletzung 15,4 Prozent und für Straftaten gegen das Leben zehn Prozent. Das heißt, dass knapp jede fünfte Körperverletzung und jede zehnte Straftat gegen das Leben von einem Mädchen oder einer jungen Frau bis 21 Jahre begangen wird. "Der Anteil von Mädchen an der Gewaltkriminalität steigt jedoch erst seit einigen Jahren deutlich an", sagt Robertz. Genauer: In den vergangenen 20 Jahren stieg er bei Körperverletzung um das Sechsfache. Robertz: "Waren es 1989 noch 4217 tatverdächtige junge Frauen, zählten wir 2009 bereits 25 899." Und sogar das Zehnfache betrug die Zunahme bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung - und zwar insbesondere auf Straßen, Wegen und Plätzen. "1989 wurden in diesem Bereich 668 weibliche Tatverdächtige unter 21 Jahren erfasst, 2009 waren es schon 6307", sagt Wissenschaftler Robertz. "Wir registrieren also einen beachtlichen Anstieg der Gewaltkriminalität durch Mädchen und junge Frauen, der nicht wegdiskutiert werden kann." Interessanterweise sei dieser merkliche Anstieg auch in Österreich, der Schweiz, Dänemark, Norwegen und Großbritannien zu beobachten.

Auch Xenia Bade hat sich in ihrer Diplomarbeit mit dem Phänomen der Mädchengewalt befasst. Sie studiert Soziale Arbeit an der Universität Lüneburg und sagt: "Mädchen prügeln sich nicht? Das war vielleicht früher mal so. Auch wenn natürlich Jungs für den größeren Teil der Gewalttaten verantwortlich sind, holen die Mädchen auf." Mädchengangs, die in Großstädten ganze Gebiete erobern, gebe es genau da, wo es auch Jungengangs gibt: "In sozialen Randgebieten. Da, wo es keine Perspektiven gibt, weder für Jungs noch für Mädchen."

Männliches Verhalten wird imitiert, die Straße erobert. "Gewalt wird zu einer möglichen Ausdrucksform für Mädchen, das hängt sicherlich mit der langsamen Aufweichung traditioneller Geschlechterkonzepte zusammen. Die Gründe für die Gewaltanwendung aber sind geschlechtsspezifisch. Jungen haben oft materielle Gründe, Mädchen handeln eher aus Beziehungsaggressionen heraus, um sich gegen Beleidigungen zu wehren", sagt Bade, betont aber auch: "Die meisten Mädchen gehen mit Angriffen immer noch anders um als Jungs. Sie richten ihre Aggressionen gegen sich selbst."

Das bestätigt auch der Kriminologe. "Die gegen sich selbst gerichtete Aggression ist eine Verhaltensweise, die Mädchen häufiger als Jungen zeigen", sagt Frank Robertz. "Sei es das Verinnerlichen eines negativen Selbstbildes, eine Essstörung oder auch das Ritzen oder Schneiden der Unterarme oder Beine."