Im Koalitionsstreit um die Energiepolitik naht die Entscheidung. Das letzte Kernkraftwerk soll bis mindestens 2035 Strom liefern

Berlin. Die schwarz-gelbe Koalition will die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke um mindestens zehn Jahre verlängern. Nach der Vorlage eines Experten-Gutachtens sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag in der ARD, sie halte eine Laufzeitverlängerung um zehn bis 15 Jahre für "fachlich vernünftig". Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle plädierte für mindestens zwölf Jahre längere Laufzeiten. Merkel sagte, das Gutachten habe ergeben, dass eine Verlängerung im zweistelligen Bereich notwendig sei. Hier seien die besten Ergebnisse bei Versorgungssicherheit, Strompreis und CO2-Verringerung zu erwarten.

Allerdings müsse noch geklärt werden, wie die Sicherheit der Atommeiler bei der Laufzeitverlängerung gewährleistet werden könne. Außerdem müsse die Verlängerung so gestaltet werden, dass diese ohne Zustimmung des Bundesrats erfolgen könne, wo Schwarz-Gelb keine Mehrheit mehr hat. Brüderle sagte der "Wirtschaftswoche", aus dem Gutachten gehe hervor, dass der volkswirtschaftliche Nutzen bei einer Laufzeitverlängerung von zwölf oder 20 Jahren höher sei als bei den Extrem-Varianten mit vier und 28 Jahren. "Deshalb sollten wir uns dazwischen einigen."

Auch Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) äußerte sich ähnlich: "In der Diskussion gewesen ist ein Korridor zwischen zehn und 15 Jahren, und ich sage Ihnen voraus, in dieser Größenordnung wird es auch beschlossen werden", sagte er im ZDF. Das würde bedeuten, dass es bis mindestens 2035 Strom aus deutschen Atomkraftwerken geben wird. Unklar ist, ob eine solche Laufzeitverlängerung vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben kann. Schwarz-Gelb hat im Bundesrat keine Mehrheit mehr und will deshalb die Länderkammer umgehen. Innen- und Justizministerium argumentieren, dass in einem solchen Fall nur eine moderate Laufzeitverlängerung möglich sei. Im Raum stehen dabei Zahlen zwischen knapp drei und höchstens zehn Jahren.

Merkel betonte, sie werde darauf achten, dass die Regierungsentscheidung "rechtlich belastbar ist". Mehrere Landesregierungen haben bereits Klagen vor dem Verfassungsgericht angekündigt für das nun von Merkel skizzierte Entscheidungsszenario. Möglich ist, dass es nicht für alle der derzeit laufenden 17 Kernkraftwerke ein Laufzeitplus geben wird. Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) will bei längeren Laufzeiten laut einem Bericht des "Spiegels" vorschreiben, dass alle deutschen Kernkraftwerke mit Baumaßnahmen gegen Flugzeugabstürze geschützt werden. Strenge Sicherheitsauflagen könnten für einzelne AKWs Milliardeninvestitionen erforderlich machen. Dies könnte den Betrieb gerade älterer Anlagen unrentabel machen.

Wie mehrere Zeitungen berichteten, kommt das Gutachten zu dem Schluss, dass bei zwölf Jahren mehr Laufzeit der Strompreisanstieg für Privathaushalte um vier Prozent gedämpft würde, bei 20 Jahren um sieben Prozent. Die Treibhausgasemissionen würden um zehn bis 16 Prozent reduziert. Offenbar wären ohne Laufzeitverlängerung massive Stromimporte aus dem Ausland notwendig.

Die Bundesregierung hatte am Freitagabend das von ihr in Auftrag gegebene Gutachten erhalten, am Wochenende berieten es die Fachleute von Wirtschafts- und Umweltministerium. Das Dokument soll in der kommenden Woche veröffentlicht werden. Bis Ende September will Schwarz-Gelb endgültig über die Laufzeitenverlängerung entscheiden.

Heinz Smital, Atomexperte bei der Umweltschutzorganisation Greenpeace, kritisierte gegenüber dem Abendblatt: "Die Gutachten der Regierung sollen eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke schönrechnen. Durch die Vorgaben bei der Auftragsvergabe waren positive Effekte bei den Szenarien mit Laufzeitverlängerung vorherbestimmt."