In der dramatischsten Stunde griff Merkel zu einem Fußballvergleich. Ein Protokoll des Tages in der Bundesversammlung

Mittwoch, 21.13 Uhr: Hochspannung im Parlament. Präsident Norbert Lammert gibt das Ergebnis des entscheidenden dritten Wahlgangs zum Bundespräsidenten bekannt. Auf Joachim Gauck entfallen 494 Stimmen. Standing Ovation. Gauck kämpft mit den Tränen. Jetzt kann jeder sehen, wie groß die Anspannung gewesen ist. Lammert fährt fort: "Auf Christian Wulff sind 625 Stimmen entfallen." Jubel in den Reihen von Union und FDP. Die Erleichterung ist mit Händen zu greifen.

Rückblick

7.00 Uhr: Christian Wulff frühstückt mit seiner Frau Bettina und Tochter Annalena in einem Berliner Hotel. Auch Joachim Gauck ist schon auf, er trinkt mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt in der gemeinsamen Schöneberger Wohnung eine Tasse Kaffee. Momente der Ruhe vor dem Sturm.

11.00 Uhr: Christian Wulff ist im Reichstag eingetroffen. Er nimmt an den Fraktionssitzungen von CDU/CSU und FDP teil. Niemand aus der Union bekennt, dass er Wulff nicht wählen will.

11.30 Uhr: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) präsentiert sich entspannt im Plausch mit Unionsfraktionschef Volker Kauder. Ist sie es wirklich?

12.00 Uhr: Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnet die Sitzung. Er lässt sich nicht anmerken, dass er sich selber Hoffnungen auf die Nachfolge von Horst Köhler gemacht hatte. Dessen abrupte Flucht aus dem Amt kommentiert er unverhohlen kritisch.

12.15 Uhr: Die 1222 Wahlmänner und -frauen werden alphabetisch aufgerufen und aufgefordert, ihre Stimmzettel in die Urnen zu werfen. Die Abstimmung ist frei und geheim.

13.29 Uhr: Hinter verschlossenen Türen beginnt die Auszählung.

14.07 Uhr: Bevor die Sitzung wieder eröffnet wird, wabert das Gerücht durch die Reihen, die Koalition habe nicht "gestanden". Wulff müsse sich erneut zur Wahl stellen.

14.14 Uhr: Lammert verkündet das Ergebnis. Der schwarz-gelbe Kandidat hat nur 600 Stimmen bekommen, erforderlich wären 623 gewesen. Und eigentlich hat die Koalition sogar 644. Merkel nimmt das Ergebnis mit gusseiserner Miene zur Kenntnis. Wulff ringt sich ein Lächeln ab. Krisensitzungen der Fraktionen. Merkel versucht, ihre Wahlleute einzuschwören. Böses Gelächter, als sie Wulff dafür dankt, dass er für einen zweiten Wahlgang zur Verfügung steht. CSU-Chef Horst Seehofer warnt vor gegenseitigen Schuldzuweisungen. Anschließend ist von einem "schockartigen Stimmungswechsel" die Rede.

14.25 Uhr: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hält sich mit Triumphgesten zurück. "Union und FDP können stolz sein auf ihre Leute, die sich die Freiheit nehmen, so zu wählen, wie sie es für richtig halten." FDP-Chef Guido Westerwelle kündigt an, dass die Liberalen "weiter geschlossen" Wulff wählen wollen. Dabei haben - mit Ansage - mindestens vier FDPler für Gauck gestimmt.

15.15 Uhr: Der neue Wahlgang beginnt. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) spricht von einer Belastung für das Klima in der Koalition. FDP-Entwicklungsminister Dirk Nebel schiebt der Union die Schuld zu. "Eine unangemeldete Gegenstimme ist bei uns nicht üblich, deswegen kann ich das weitgehend ausschließen."

16.08 Uhr : Linkpartei-Chefin Gesine Lötzsch verkündet, dass ihre Partei Gauck wieder nicht gewählt habe.

17.10 Uhr: Lammert gibt das Ergebnis des zweiten Wahlgangs bekannt: Wulff hat die absolute Mehrheit wieder verfehlt. Jetzt sind es 615 Stimmen. Ein schwarz-gelber Albtraum wird wahr: Die Kandidaten müssen in den dritten Wahlgang. Erste Delegierte buchen bereits ihre Rückflüge um.

17.30 Uhr : Erneut tagen die Fraktionen. Die Kanzlerin räumt auf der Sitzung der CDU/CSU ein, dass ihre Regierung Fehler gemacht habe. Das dürfe aber nicht dazu führen, nun Wulff die Stimme zu verweigern. Man habe eine Verpflichtung, in der schweren Zeit für Stabilität zu sorgen. Merkel erinnert an die Fußball-WM: "Wir haben jetzt das Serbien-Spiel gehabt, jetzt kommt das England-Spiel", sagt sie in Anspielung an die Niederlage der deutschen Elf gegen Serbien und ihren Sieg gegen England. "Wir würden mehr verlieren als nur den dritten Wahlgang", mahnt Seehofer. Der CSU-Chef appelliert an die Wahlleute, im dritten Wahlgang für eine satte Mehrheit zu sorgen. "Jetzt ist Disziplin gefragt!" Dann spricht Hessens Ministerpräsident Roland Koch. Er wendet sich an die Abweichler und warnt sie davor, die Regierung zu sprengen.

19.16 Uhr : Linken-Fraktionschef Gregor Gysi gibt bekannt, dass Luc Jochimsen ihre Kandidatur zurückzieht. Er enttäuscht die Hoffnung von Sigmar Gabriel, die Linke könnte jetzt doch Gauck mitwählen. Der sei nicht tragbar. SPD-Fraktionsvize Joachim Poß ist enttäuscht: "Das erhöht die Chancen von Christian Wulff, es doch noch zu schaffen." Jetzt reicht die einfache Mehrheit. Minuten später eröffnet Lammert den dritten Wahlgang. Er gibt bekannt, dass das Büfett auf der Fraktionsebene jetzt eröffnet ist. Beifall.