In Thüringen war nach Ansicht von Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung Berlin der Beginn rechtsextremer Aktivitäten in Ostdeutschland. Den Grund, warum Thüringen “unter dem Radar von Öffentlichkeit und Politik geblieben“ sei, sah sie darin, dass in Thüringen Neonazis nicht in Parlamenten saßen.

Erfurt. Aus Thüringen ist nach Ansicht von Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung Berlin der Auftakt rechtsextremer Aktivitäten in Ostdeutschland gekommen. „Nicht Mecklenburg-Vorpommern, nicht Sachsen“, sagte Kahane am Montag bei einer öffentlichen Anhörung des Thüringer Untersuchungsausschuss zur Neonazi-Terrorszene. Den Grund, warum Thüringen „unter dem Radar von Öffentlichkeit und Politik geblieben“ sei, sah sie darin, dass dort Neonazis nicht in Parlamenten saßen. Dies habe zu einer groben Unterschätzung geführt. „Thüringen war das Modell des Verstehens des modernen Extremismus.“ Gründe sieht sie unter anderem darin, dass „national- bolschewistische“ Überzeugen mit rechtspopulistischen zusammentrafen.

Der im Februar gebildete Landtags-Untersuchungsausschuss hatte Beratungs- und Opferverbände sowie Wissenschaftler geladen, um das gesellschaftliche Umfeld des Entstehens des Rechtsextremismus von 1989 bis 1998 zu beleuchten. Der Ausschuss soll mögliche Versäumnisse und Fehler von Behörden bei der Suche nach dem 1998 in Jena untergetauchten Neonazi-Trio aufdecken. Bei seiner Sitzung am 21. Mai will er deshalb die Thüringer Innenminister der 90er-Jahre von CDU und SPD anhören. Der als Zwickauer Zelle bekanntgewordenen Gruppe werden unter anderem neun Morde an Gewerbetreibenden ausländischer Herkunft zugerechnet sowie der Mord an einer Polizistin 2007 in Heilbronn.

Bereits 1994 sei dem Thüringer Verfassungsschutz die zunehmende Aggressivität des Thüringer Heimatschutzes nicht entgangen, sagte der Politikwissenschaftler Rudolf van Hüllen, der bis 2006 beim Bundesamt für Verfassungsschutz tätig war. Augenscheinlich habe die Chemie zwischen Polizei und Verfassungsschutz gestimmt. Stutzig hätten sie werden müssen, als es hieß, das untergetauchte Trio brauche kein Geld mehr aus den Neonazi-Szene. Wie bei der linksextremistischen RAF gehörten auch im rechten Untergrund Kriminalität und Banküberfälle zur Normalität. Es sei übersehen worden, dass die Terrorzelle strategisch langfristig agierte.

Opfer rechter Gewalt aus Jena, Saalfeld und Bad Blankenburg berichteten über das Erstarken von Neonazis und ihrer Strukturen nach 1989, die von Politikern und Polizei oft toleriert, verharmlost und auch geschützt worden seien. So habe der Neonazi Tino Brandt, dessen Enttarnung als V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes maßgeblich zum Scheitern des bundesweiten NPD-Verbots geführt hatte, in den 90er-Jahren gesagt, das Ziel sei eine „national befreite Zone“. Linke und Punks seien als gefährlich abgestempelt worden. Schon damals seien Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zusammen mit anderen Neonazis teils aggressiv in Erscheinung getreten.

Der Jenaer Wissenschaftler Matthias Quent sagte, die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus erfolgte nicht auf der Grundlage der Demokratie, sondern in Abgrenzung zum Linksextremismus. Es sei sich in den 90er-Jahren nicht mit dem politischen Aspekt des Rechtsradikalismus auseinandergesetzt worden, obwohl es Warnungen gegeben habe.