In seinem Buch “Mutproben“ verbindet Hamburgs Ex-Bürgermeister politische Positionen mit seiner Autobiografie. Teil 1 erinnert an den turbulentesten Tag seiner Amtszeit - den Bruch mit Innensenator Schill am 19. August 2003

Hamburg. Vielleicht hatte ich mir Schill selbst auch nur schöngeredet. Vielleicht, weil ich ihn schon aus früheren Tagen kannte und meinte, ich könne ihn einschätzen. Vielleicht aber auch, weil ich in beruflichen Dingen eine Hornhaut auf der Seele habe. Im Privaten bin ich recht verletzlich, was Freundschaften angeht oder auch Gefühle. Im beruflichen Bereich hingegen geht mir Zwischenmenschliches emotional kaum nah. Und möglicherweise habe ich die nahenden Gefahren dadurch unterschätzt.

Es passierte nach den großen Ferien im Sommer 2003. Bereits während meines damaligen Segelurlaubs hatte sich eine Situation um den Staatsrat Ronald Schills zugespitzt. Ein Mann, den ich persönlich sehr schätzte, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, der von der SPD damals zur Schill-Partei gestoßen war. Ein intelligenter Mann und schlauer Jurist, der für Schill praktisch die Innenbehörde aus der zweiten Reihe heraus leitete. Um ihn kriselte es nun: Walter Wellinghausen hatte nach seiner Berufung zum Staatsrat Honorare von einer Radiologiepraxis erhalten und bekam zusätzlich Honorarzahlungen als Vorstand einer Briefkastenfirma. Wellinghausen bestritt die Vorwürfe und erläuterte, bei den Geldzahlungen, die von der Klinik im Jahre 2002 geflossen seien, handele es sich um Honorare aus dem Jahr 2001.

Die Sache war öffentlich geworden und schlug nun hohe Wellen. Ich bekam während meines Urlaubs den Stand regelmäßig durchgegeben. Zu Beginn dachte ich noch, mit einem Schuldeingeständnis und einer Entschuldigung könnte man aus der Sache heil herauskommen. Doch die Angelegenheit wuchs zu einem regelrechten Sturm heran, zumal ich zu Beginn meiner Amtszeit einen anderen Staatsrat wegen weitaus harmloseren Vorwürfen, die sich meiner Erinnerung nach dann nicht einmal bestätigten, entlassen hatte.

Nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub war gleich am ersten Arbeitstag klar, ich müsste Schills Vertrauten in den einstweiligen Ruhestand versetzen. Ich bat Schill also zu mir ins Büro. Ich war überzeugt, dass er gerade als Law-and-Order-Mann extrem vorbildlich auftreten müsse, und wollte mit ihm darüber sprechen. Es war vormittags gegen halb zehn, als Schill eintrat. Wir sprachen kurz über den Urlaub, aber dann kam er von sich aus schnell zur Sache und mir damit zuvor. "Ich höre, du willst Wellinghausen entlassen?" Wir duzten uns, waren zwar nicht befreundet, aber vor Jahren hatten wir mal Brüderschaft getrunken. Ich bestätigte ihm also meine Absicht, Wellinghausen abzusetzen. "Das kannst du nicht", erwiderte er daraufhin. "Wieso?", fragte ich. "Rechtlich bin ich dazu befugt, und ich werde es auch tun. Und denk mal darüber nach, ob das nicht auch für dich so besser ist." Wellinghausen sei eine Belastung. "Nein, ohne Wellinghausen geht das nicht. Der ist eine wichtige Stütze. Und außerdem kannst du das nicht." Schill war auf Angriff getrimmt, sein Ton herausfordernd. "Warum soll ich das deiner Meinung nach nicht können?", wollte ich wissen. Schill zurück: "Weil du einen Liebhaber zum Senator gemacht hast." Ich war baff: "Wen meinst du jetzt? Ich weiß nicht, wovon du redest!" Darauf Schill: "Du weißt genau, wen ich meine. Roger Kusch. Er ist dein Freund. Ich weiß es aus sicherer Quelle. Du hast mit ihm eine sexuelle Beziehung und du hast ihn zum Justizsenator gemacht."

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann setzte Schill wieder an: "Wenn du Wellinghausen entlässt, dann bist du geliefert. Dann bist du dein Amt los." Ich war fassungslos und fragte noch mal nach, was genau er damit meine. "Wenn das mit Wellinghausen passiert", so Schill, "dann werde ich heute der Öffentlichkeit mitteilen, was ich aus sicherer Quelle weiß: dass du nämlich deinen Freund und Liebhaber zum Senator gemacht hast und dein Amt für persönliche sexuelle Beziehungen und Neigungen missbraucht hast. Kusch lebt in deiner Wohnung und dafür habe ich Zeugen." Ich fragte ihn, ob er mich erpressen wolle. "Heute Abend, Primetime!", fügte Schill noch mit drohender Geste hinzu. Es war also klar: Er wollte mich, unjuristisch gesagt, erpressen. Ich sagte ihm, dass der Vorwurf Unsinn sei und absurd, und dass ich mich von niemandem erpressen lasse. Schließlich wurde ich laut: "Raus, verlass sofort das Büro. Ich will dich nie wieder hier sehen. Das war's!" Schill zog wutentbrannt aus dem Zimmer, blaffte noch einmal: "Heute Abend: Primetime!", und stürmte aus meinen Diensträumen. Meine Sekretärin stand völlig blass da. Sie hatte das Geschrei natürlich mitbekommen und war sichtlich irritiert.

Zehn Minuten hatte der Spuk gedauert, nun war schnelles Handeln gefragt. Immerhin hatte er gedroht, seine absurden Unterstellungen unverzüglich an die Öffentlichkeit zu bringen. Und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er damit Ernst machen würde. Mir war intuitiv klar, dass ich noch vor ihm mit der Sache raus musste. Der, der zuerst draußen ist, der bringt den anderen in die Defensive und ist damit im Vorteil.

Rausschmiss aus dem Zimmer reichte also nicht. Nach dieser Geschichte musste sofort die Entlassung als Senator folgen. Ich rief bei Roger Kusch an, schließlich war er eine der darin verwickelten Personen. Kusch zeigte sich entsetzt und sagte, das sei ja das Allerletzte. Ich solle natürlich tun, was ich für richtig halte. Danach sagte ich noch dem Fraktionsvorsitzenden der CDU Bescheid und auch Rudolf Lange von der FDP, der mich zunächst noch "abzukühlen" versuchte: "Überleg es dir noch mal! Muss das denn sein?" Aber als ich ihm den Vorfall detailliert schilderte, gab er mir recht. Es musste sein, es führte kein Weg dran vorbei. Ich erkundigte mich also zunächst, wie man einen Senator überhaupt entlässt, wie das technisch vor sich geht. So etwas hatte ich ja bisher nicht machen müssen. Es musste dem Senator und dem Staatsrat eine Entlassungsurkunde übergeben werden. Anschließend "machte ich die Schotten dicht" und formulierte die Erklärung für die Pressekonferenz, die ich für den Mittag angesetzt hatte. Mir war bewusst, dass ich in diesem Moment hoch pokerte. Erstens gab es keine Zeugen für den Vorfall. Ich musste also darauf vertrauen, dass man mir glaubt, sollte Schill alles bestreiten. Insgeheim hoffte ich natürlich darauf, dass er alles zugeben würde, immerhin meinte er ja, die besseren Karten in der Hand zu halten. Zweitens konnte seine Entlassung das jähe Ende der Koalition und meiner Regierungszeit bedeuten. Doch für mich war es eine Frage der zukünftigen eigenen Autorität. Und es war eine Frage der Ehre: Man darf sich niemals erpressen lassen.

Als ich den Raum 151 zur Pressekonferenz im Rathaus betrat, saß Schill schon vor den versammelten Journalisten und wartete. Ich hatte vorher gehört, dass er da sein würde, aber das konnte und wollte ich auch nicht verhindern.

Er sah "verboten" aus. Sein Gesicht war gerötet und auf der Oberlippe war ihm genau an diesem Tag eine Herpesbeule gewachsen. Die taz nannte es später das "Hitler-Herpes", weil es genau in der Mitte saß und im Halbschatten gewisse Assoziationen hervorrufen konnte. So hockte er also da, die Arme auf dem Schoß verschränkt, eine schwarze Krawatte mit Schmetterlingen drauf, und schaute finster drein. Ich setzte mich vor die wartenden Journalisten, kramte meine Zettel hervor und verkündete, dass ich soeben Walter Wellinghausen als Staatsrat entlassen hatte. Schon da war das Geraune groß und alle Blicke gingen zu Schill. Ich fuhr dann damit fort, dass auch Schill von mir entlassen worden sei, weil er versucht habe, mich zu erpressen. Ich gab das Gespräch mit Schill wieder. Dann brach die Hölle los.

Ich stand auf und verließ den Raum, ohne weitere Fragen zuzulassen. Meinerseits war alles gesagt, was sollte man da noch groß reden?

Nachdem ich dann weggegangen war, setzte sich Schill auf meinen Platz und sagte, dass er nun seinerseits auch eine Erklärung abgeben werde. Dann erzählte er seine Geschichte und - man kann es nicht anders sagen - redete sich um Kopf und Kragen. Er habe Zeugen, die eindeutige Geräusche aus meiner Wohnung am Hansaplatz gehört hätten. Und es folgten wirre Erläuterungen, in denen er mich im Liebesrausch darstellte. Letztlich gab er noch seine Erpressung unumwunden zu. Hätte sich Schill auf der Pressekonferenz als Opfer dargestellt und behauptet, dass das alles gar nicht stimme, dann wäre es schon komplizierter verlaufen. Hätte Schill steif und fest behauptet, ich sei durchgedreht und würde diesen angeblichen Vorfall nur als Vorwand nehmen, um die Koalition vorzeitig aufzukündigen - wer weiß, wer mir dann noch geglaubt hätte. Es wäre sicherlich brenzlig geworden. So aber waren die Leute völlig geschockt.

Das Beeindruckende für mich war, zu beobachten, wie sich plötzlich auch seine eigenen Leute von ihm abwandten und mir das größere Vertrauen entgegenbrachten. Schill war endgültig die Kontrolle über sich und über die Situation entglitten. ...

Als einige Monate später noch Paparazzi-Fotos von Ronald Schill in Brasilien auftauchten, mit äußerst sparsam bekleideten Frauen im Arm und auf einem YouTube-Video vermutlich Kokain schnupfend, da dämmerte mir so manches. Mit Kokain kenne ich mich zwar nicht aus, aber ich erinnerte mich an die Anfänge, als wir noch in den Koalitionsverhandlungen steckten und Ronald Schill jede Stunde auf die Toilette rannte. Wir wunderten uns damals alle, was der dort wohl so oft macht. Aber wir schmunzelten eher darüber. Mit Kokain hatten wir das überhaupt nicht in Verbindung gebracht. Wir meinten, dass er unter seiner schusssicheren Weste vielleicht schwitzt, und er müsse diese von Zeit zu Zeit mal ausziehen und sich durchlüften. Auch später hatte es ja die Vorwürfe gegen ihn gegeben, er habe Kokain geschnupft, und so war er dann zur Haarprobe nach München geflogen. Bewiesen werden konnten die Vorwürfe damals nicht. Aber im Nachhinein macht man sich so seine Gedanken.