Ein Jahr nach Fukushima kämpfen Menschen in Gorleben gegen ein Endlager - und manche mit den Schulden der Gemeinde.

Gartow. Am Tag, als mit der großen Welle auch die nukleare Katastrophe über Japan hereinbrach, es war der 11. März 2011, ein Freitag, bekam Friedrich-Wilhelm Schröder Besuch von einem Kamerateam. Die Journalisten vom Fernsehen hatten gegen halb drei Uhr nachmittags einen Termin im alten Rathaus von Gartow im Wendland. Japanische Nachrichtensender meldeten da gerade, dass das Kühlwasser im Atomreaktor von Fukushima auf einen bedenklich niedrigen Stand gesunken sei. Schröder, Mitglied der CDU, ist Bürgermeister der Gemeinde Gartow, zu der auch Gorleben gehört, Standort des Atommülllagers. Und Fluchtpunkt der deutschen Anti-Atom-Bewegung.

Doch im Interview ging es nicht um Fukushima, auch nicht um Atommüll in Gorleben. Es ging um einen neuen Landarzt, den die Gemeinde verzweifelt suchte. Zeitungen hatten schon berichtet, sogar eine Facebook-Seite stellte die Gemeinde online, "Gartow sucht den Landarzt".

Fukushima, sagt Schröder, sei im Grunde genommen ziemlich weit weg.

Genau genommen sind es 8856 Kilometer Luftlinie zwischen dem Fachwerkhaus in Gartow und dem Reaktor in Japan. Aber das, was am 11. März in Japan passierte, traf auch Deutschland. Die Bilder des zerstörten Kernkraftwerks trugen eine Debatte über Atomkraft in die Republik, nach Berlin, in die schwarz-gelbe Koalition, die ein paar Monate zuvor noch die Laufzeiten der deutschen Meiler um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert hatte. Nach Fukushima folgte der Ausstieg aus dem Ausstieg, die deutschen Kraftwerke sollen bis 2022 vom Netz gehen. Für den Müll braucht Deutschland ein Endlager. Per Gesetz soll das jetzt gesucht werden, bundesweit, ergebnisoffen, wie es so schön heißt. Auch Gorleben ist noch im Gespräch.

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Man kann sich gut vorstellen, was die Politik damals dachte, als sie Gorleben Anfang der 1980er-Jahre zum Zwischenlager machte, hier am damaligen Rand der westdeutschen Republik, zwischen Birkenwäldern, Wiesen und Nadelbäumen. Würde schon niemanden stören. Doch seit der deutschen Einigung liegt Gorleben nicht mehr am Rand, sondern in der Mitte Deutschlands. Die Birken und die Kühe sind geblieben, der Protest auch.

Jedes Jahr blockieren Demonstranten Straßen und Schienen, stellen sich "X-tausendmal quer", die Bilder sind bekannt. An Birken hängen gelbe Kreuze, Plakate mit Sprüchen: "Man riecht es nicht, man spürt es nicht, man schmeckt es nicht. Man checkt es nicht - Gorleben ist nicht dicht."

Bürgermeister Schröder, 57 Jahre alt, sagt: "Ich gehe davon aus, dass das Lager sicher ist." Er vertraue der deutschen Wissenschaft. Wer Schröder in seinem Büro besucht, wird mit einem Lächeln empfangen. Wieder ein Reporter, der wissen will, wie das so ist im Wendland, mit dem Müll, den Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei. Also beginnt Schröder mit einer Klarstellung: "Die wenigsten, die ins Wendland kommen, denken an das Atommülllager." Ein Jahr nach Fukushima hat Schröder andere Sorgen, 130 Millionen Euro Schulden des Landkreises Lüchow-Dannenberg zum Beispiel, zu dem auch Gartow und Gorleben gehören. Vom Betreiber des Brennelementlagers bekommt Schröders Gemeinde jedes Jahr 840 000 Euro. Von dem Geld finanziere man Kitas, Spielplätze. Und bremst die Schulden aus. Gorleben hat neue Fußwege mit roten Pflastersteinen und eine Mehrzweckhalle. 120 Menschen arbeiten im Lager, sogar manch ein Bauer ist Wachmann am Tor des Lagers. Die Brennelementlager Gorleben GmbH brachte nicht nur Müll ins Wendland, sondern auch Geld und Arbeit.

Würden Sie sich freuen, wenn Gorleben Endlager wird? Schröder, runder Kopf, gemütlicher Bauch, dreht seinen Bürostuhl weg vom Schreibtisch in Richtung Fenster. Er überlegt, schaut auf die Wiese vor dem Haus. Freuen könne man sich über ein Geschenk, nicht über ein Atomlager. Aber er sagt auch: "Wir haben einen Anspruch darauf, dass der Standort Gorleben wie alle anderen Standorte bis zu Ende erkundet wird."

113 Castoren lagern in Gorleben, 13 Transporte gab es bisher, 13 Demonstrationen dagegen. Nur einmal war Schröder selbst auf der Straße, 1979 beim großen Treck, als 100 000 Menschen 500 Traktoren aus dem Wendland in Hannover empfingen. Weil er damals neugierig war, sagt er. Gorleben sei im Rathaus von Gartow immer Chefsache gewesen. Aber die Suche nach einem Endlager sei Aufgabe des Bundes. "Wir können wenig tun."

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Lennart Müller sagt, man könne sehr wohl etwas tun. Deshalb zog er im vergangenen Sommer ins Wendland, in einen Bauernhof mit fünf Freunden. Müller kam aus Hamburg, wo er seine Arbeit als Schauspieler abbrach. Er sitzt an einem Tisch, Dachgeschoss Altbau, mitten in Lüchow-Dannenberg. Die Bürgerinitiative hat hier ihr Büro. Im Nebenraum liegen Spraydosen, Fahnen, zusammengerollte Transparente in Pappkartons. Als Union und FDP die Laufzeitverlängerung beschlossen, wollte Müller nicht mehr "hilflos zuschauen, wie die Politik unsere Zukunft kaputt macht". Eine Woche später saß Müller auf den Schienen im Wendland, der Castor rollte. Einen Monat später demonstrierte er in Lubmin, im Februar 2011 noch einmal. Müller, gerade 30, entschied sich, den Protest zum Beruf zu machen. Außerdem, sagt er, wollte er eh aufs Land ziehen. Die Kommunen, die Biobauern, die Künstler, auch sie zogen ihn ins Wendland.

Müllers lange Locken fallen auf seinen Kapuzenpullover, manchmal spielt er mit den Fingern an seinem Smartphone. Wer mit Müller spricht, hört wenig Kompromissvorschläge und jede Menge klare Haltung. Er zählt Betrug und Enttäuschungen auf, die Gegner des Lagers in Gorleben erlebt hätten. Der Standort müsse endlich vom Tisch. Gorleben, sagt Müller, sei geologisch nicht geeignet und politisch nicht durchsetzbar. Wenn man ihn nach Studien zum Zwischenlager fragt, führt er vor allem die der Bürgerinitiative an - oder die von Greenpeace. Sie seien Umweltlobbyisten, sagt Müller. Es gebe eben kein bisschen Atomkraft. Deshalb, sagt er, führen sie diesen Kampf.

Und nach der Katastrophe von Fukushima ziemlich erfolgreich, wie er findet. Es habe eine Aufbruchstimmung gegeben, auch wenn das Wort blöd klinge. Die Bilder des zerstörten Reaktors brachten die Gegner der Atomkraft in Deutschland wieder auf die Straßen, es gab Mahnwachen am Zwischenlager in Gorleben. 1000 Mitglieder hat die Bürgerinitiative, mit 50 000 Euro pro Jahr finanzieren sie ihre Aktionen und Müller eine Vollzeitstelle. Er misstraut dem schwarz-gelben Atomausstieg. Das alles sei noch nicht in trockenen Tüchern - aber die Anti-AKW-Bewegung so stark wie selten: im Wendland, in den Medien, bei den Castor-Demos. Das Politische hat mit Fukushima zurück in Müllers Leben gefunden. Zurück in das Leben vieler junger Menschen, auch der Teenager. Kurz nach der Katastrophe in Fukushima druckte die "Bravo" das Symbol der Atomkraftgegner, die strahlende Sonne, als Poster. Es war das erste politische Poster seit Gründung der Zeitschrift vor mehr als 50 Jahren.

Lesen Sie in den kommenden Tagen im Abendblatt, wie es ein Jahr nach Fukushima um die Atomstandorte Brokdorf und Krümmel steht.