Zwölf Jahre lang hieß Manuel Bauer nur “Pistole“ und war Neonazi. Erst im Gefängnis kam die Erkenntnis. Schulklassen erzählt er, wie es dazu kam.

Hamburg. Manuel Bauer steht vorn vor den Zehntklässlern, die Vorhänge sind zugezogen, das Licht ist ausgeschaltet, der Projektor surrt leise. Bauer erzählt, wie er und 25 "Kameraden" mit Fäusten und Knüppeln loszogen und eine türkische Hochzeit in Sachsen-Anhalt aufmischten. An einem Tag im Spätsommer 1998, gegen neun Uhr abends, hielten sie mit sieben Autos und zwei VW-Transportern in einer Nebenstraße bei Loburg. Drei, vier Neonazis standen Schmiere vor der Tür des Hauses und passten auf, dass keiner der Gäste Hilfe holen konnte. Drinnen schlugen Bauer und die anderen los, verprügelten Ältere und Junge. "Kinder haben wir verschont", sagt Bauer. Sie zertrümmerten Tische und Kiefer. Drei Minuten dauerte die Aktion, dann zogen sie wieder ab. Den Tipp für die Hochzeit hatte seine "Kameradschaft" von einem Neonazi aus der Region bekommen. Vor dem Fest hätten sie den Ort ausgekundschaftet, sagt Bauer. Sie machten sich einen Lageplan, prüften Fluchtwege und Straßen, in denen sie parken konnten.

Bauer steht vor der Klasse und holt die menschenverachtenden Sprüche von damals wieder raus, die sie gebracht haben über "Kanaken", Schwule und Juden. Und er sagt Sätze wie diesen: "Mit 14 Jahren habe ich zum allerersten Mal gehört, wie der Unterkiefer von einem jungen Mädchen knackt."

Es gibt Bilder in Manuel Bauers Kopf, die er nicht mehr loswird.

Nach solchen Sätzen ist es still in der Klasse. Kein Schüler raschelt mit Papier, niemand spielt auf dem Handy. Der Projektor wirft Bilder von Comic-Heften mit den "braunen Schlümpfen" und Puzzlekästen mit den Grenzen des Deutschen Reiches von 1939 an die Wand. "So was haben wir uns damals ausgedacht", sagt Bauer. "Irre, oder?" Es habe sogar "nationale Krabbelgruppen" für Kleinkinder der Neonazis gegeben. Ein paar Schüler ziehen die Augenbrauen hoch, lächeln ungläubig. In der Klasse 10b am Berufsschulzentrum in Regensburg mischen sich in dieser Stunde Entsetzen und Faszination.

Manuel Bauer ist 33 Jahre alt. Zwölf Jahre seines Lebens nannten ihn seine Freunde nicht Manuel, sondern "Pistole". Die Freunde waren Neonazis, und Bauer war ihr Anführer. Er sagt, er habe die Wehrsportgruppe "Racheakt" geleitet und 1998 den "Bund Arischer Kämpfer" gegründet. 30 Neonazis sollen sich ihm angeschlossen haben, die meisten aus seiner sächsischen Heimatstadt Torgau, andere aus Sachsen-Anhalt. Er bildete militante Rechtsextreme aus, brachte ihnen das Schießen bei, sie drillten sich gegenseitig im Kampfsport. Bauer erzählt, er habe Pläne gehabt, wie man eine Nagelbombe baut.

"Ja", sagt er. "Ich war in meiner krassesten Zeit auch bereit, einen Menschen zu töten."

Seit 2003 ist er raus aus der Szene. Mit der Hilfe von "Exit-Deutschland", einem Programm für Aussteiger, aber auch mithilfe seiner damaligen Freundin und jetzigen Frau habe er den Absprung geschafft, sagt Bauer. Er ist raus aus seinem alten Leben als Neonazi - und doch bestimmt es auch sein neues Leben.

Auf seinen Handrücken hat Bauer einen Halbkreis tätowiert, der sieht aus wie ein Spinnennetz. In fünf Kästchen ist der Halbkreis unterteilt. Jedes einzelne steht für einen Türken, den er verletzt hat. Bauer trägt sein früheres Leben als Tattoo am Körper. Wie viel davon ist noch in seinen Gedanken?

Manchmal ermahnt ihn seine Frau, wenn sich der Slang der Szene heute noch in seiner Sprache findet, wenn er "Kampfgenosse" oder "Kamerad" sagt. Neulich, erzählt er, sei ihm im Auto das Wort "Polacke" rausgerutscht, als der Typ vor ihm an der Ampel nicht losfuhr.

Eine Zeit lang hätten seine alten "Kameraden" ein Kopfgeld von 5000 Euro auf ihn ausgesetzt, sagt er. Für die Szene ist er ein Hochverräter. Wenn er Schulen oder Stiftungen besucht, ist die Polizei vor Ort informiert, zur Sicherheit. In seinem Rollkoffer habe er ein knallgrünes T-Shirt, sagt Bauer. Falls er verfolgt werde, könne er schnell sein Outfit wechseln und untertauchen. Er muss sich verstecken, weil er mit seiner rechten Vergangenheit aus dem Versteck herausgekommen ist. Das ist der Preis, den er zahlt.

In der Pause pustet Bauer Rauch auf den Pausenhof der Schule in Regensburg. Er zieht so kräftig an seiner Zigarette wie an einem verstopften Strohhalm, in zwei Minuten soll er wieder in Klassenzimmer 110 stehen. Wieder eine Doppelstunde das alte Scheißleben. Neun Vorträge vor neun Schulklassen in drei Tagen. Gestern erzählte er schon sieben Stunden am Stück von seiner Vergangenheit, morgen sind es vier Stunden vor Gymnasiasten.

"Schon alles ein scheiß Stress manchmal", sagt er. Die Schulglocke klingelt. "Und weiter", brummt er.

Seit 2006 erzählt er jungen Menschen aus seinem Leben. "Ich habe meine Eltern beschimpft und bedroht. Einmal habe ich meine Mutter gefragt, ob wir Ausländerblut in unserer Familie haben." Wer so schwachsinnig sei wie sie, habe Bauer dann zu ihr gesagt, der müsse doch "Kanakenblut" in der Familie haben. Pause. Im Raum raunen ein paar Schüler. "Krass, nä?!", sagt Bauer. Pause. "Dabei war ich früher eigentlich ein liebes Kind." Pause. Es sieht aus, als wunderte er sich in diesen Momenten noch immer über sich selbst. Über "Pistole", der an diesem Tag auch im Klassenzimmer steht.

Bauer wandert durch den Raum wie eine Mischung aus Lehrer und Showmaster. Er hat sich ein paar Geschichten aus seinem Leben zurechtgelegt. Er weiß mittlerweile, wann Schüler nur noch fassungslos staunen. Und er sieht nicht unglücklich dabei aus, eher professionell. Er spielt wieder eine Doppelstunde "Pistole". Ist ja bloß eine Rolle, macht alles erträglicher.

Waffen und Munition hätten sie illegal aus Tschechien und Polen nach Sachsen geholt für den rechten Untergrund, meist waren es Restbestände der sowjetischen Armee oder der Nationalen Volksarmee der DDR. Bauer erzählt von einer indischen Familie, auf die er losgegangen ist, und von Obdachlosen, auf die er "und die Kameraden gepisst haben, weil es halt Penner waren". Bauer sagt das rotzig und energisch.

"Ich rede jetzt im Jargon der Nazis, ja?", erklärt er den Schülern. "Ich will nicht niedlich und harmlos über die Szene reden. Weil die Szene nicht niedlich und harmlos ist." Bauers Didaktik funktioniert so wie die Plakate gegen das Rauchen: Seine Schilderungen sind so drastisch wie die Bilder von teerverklebten Lungen. Schocktherapie für die Schüler. Und für ihn selbst.

Bauer war mit seiner Geschichte schon im Fernsehen, er hat aus seinem Leben im Radio erzählt, saß bei Johannes B. Kerner und Günther Jauch in der Talkrunde, hält Vorträge an Unis wie kürzlich in Lübeck und Oldenburg. Man kann ihn über die Organisation Exit buchen. Für seine Auftritte erhält Bauer eine Aufwandsentschädigung. "Leben kann ich davon nicht."

In den Wochen der Schlagzeilen über ein rechtsextremes Terror-Trio aus Zwickau ist Bauer mit den Geschichten aus seiner Vergangenheit ausgebucht. Eine Zeit lang bekam er mehr Anfragen, als er annehmen konnte. Deutschland will wissen, wie brutal die rechte Szene ist. Und Bauer liefert. Er ist echt - und nicht nur ein schwarz-weißes Archivbild wie das Nazi-Trio. Kannte er V-Leute? Hatte er gar Kontakt zur Zwickauer Zelle? Bauer sagt, er selbst habe keine V-Leute gekannt. Und nein, er habe auch nichts vom Nationalsozialistischen Untergrund gewusst. Bauer sagt, er wolle aufklären und Hintergründe über die radikale Szene erläutern. "Manchmal wollen die Medien nur die Sensation." Er sei vorsichtiger geworden.

Wie entscheidend Bauer für die Neonazis in der Region war, lässt sich heute nicht nachweisen. Im Internet gibt es keine Einträge zum Bund Arischer Kämpfer oder seiner Wehrsportgruppe, Akten vom Überfall auf die Hochzeit finden sich nicht mehr. Auch dem Verfassungsschutz in Sachsen und Sachsen-Anhalt sind die Gruppen nicht bekannt. Sie sind in keinem der Jahresberichte der späten 90er-Jahre erwähnt. Man kenne Bauer auch nur aus den Medien, sagt ein Verfassungsschützer dem Abendblatt. "Typisch, von dem Zwickauer Trio hat man ja auch nichts gewusst", sagt Bauer.

Er arbeitet heute in der Lebensmittelbranche. Wo genau, will er nicht sagen. Er ist Zeitarbeiter, 40 Stunden pro Woche im Betrieb. Ohne die Vorträge und Fernsehauftritte würde Deutschland von Bauer nichts erfahren.

Die Schüler hören ihm jetzt zu, wie er von den Anfängen erzählt. Er sei in einer christlichen Familie aufgewachsen, habe im Krippenspiel der Schule mitgemacht und sei nachmittags zu den Jungpionieren gegangen, der Vater arbeitete in der LPG. "In der DDR hieß es, die Nazis aus dem Westen wollen unseren Frieden stören", sagt Bauer.

Er war zehn Jahre alt, als mit der Wende Coca-Cola und Hubbabubba-Kaugummi nach Torgau kamen. Und die Arbeitslosigkeit. Bauers Vater verlor seinen Job, der Sohn sein Taschengeld. Bauer sah, wie der Kindergarten in der Nachbarschaft schließen musste. In seiner Jugend brach vieles weg, was lange gegolten hatte. Nach der Wende schwärmte Bauer für die Musik von "Störkraft" und "Kraftschlag". In ihren Texten gab es keine Zweifel über Freund und Feind. "Sie fressen ständig Knoblauch und stinken wie Sau / Sie kommen nach Deutschland und leben hier für lau / Sie bauen ihre Scheiße und machen hier nur Dreck / Man muss sie einfach töten, alles andere hat kein' Zweck!" Bauer spielt vor der Klasse ein paar Lieder an, die sie damals in Torgau gehört haben. "Auf einmal waren wir alle rechts und brüllten 'Ausländer raus!'", sagt er. Sie reisten in Ferienlager der heute verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend. Die Glatze war genauso cool wie das Messer in der Tasche. Wenn sie sich am Wochenende mit Bier und Schnaps betrunken hatten, zogen sie los. Und schlugen sie los. "Ich dachte, ich war ein Held, aber ich war ein großes Arschloch."

Manuel Bauer ist auch heute kein Held. Aber wo er auftritt, bekommt er Anerkennung. Von Lehrern und Schülern, von Journalisten. Er berichte spannend über die rechtsextreme Szene und warne Schüler vor den Tricks der Menschenfänger, steht in Artikeln über seine Vorträge. Bauer ist auch ein Vorzeige-Aussteiger.

Vor der Klasse in Regensburg macht Bauer lockere Sprüche. Er habe mittlerweile ja sogar lesbische Freundinnen, mit denen er mal was trinken gehe. "Ey, die sind hammergeil", sagt er. Die Schüler lachen. "Als Freunde, ja, mehr nicht", schiebt Bauer mit einem Augenzwinkern nach. Die Feinde von einst spielen wichtige Rollen, wenn Bauer aus seinem Leben erzählt. So wie damals im Knast. 2001 wurde er verurteilt, weil er einen homosexuellen Geschäftsmann bedroht und erpresst hatte. Als er auf dem Gefängnishof sah, wie zwei "Kameraden" aus der Szene mit Gras dealten, wollte er einschreiten, weil Kiffen "undeutsch" sei. Die Neonazis prügelten auf Bauer ein. Zwei türkische Mithäftlinge gingen dazwischen, beschützten ausgerechnet ihn, den Neonazi Bauer. Dieser Tag, erzählt er den Schülern, habe ihn zweifeln lassen an seiner Nazi-Weltsicht. Mit 26 Jahren aß Bauer seinen ersten Döner.

Neun Jahre lang machte er eine Psychotherapie, schon während der Haft traf er die Gefängnispsychologin, drei Jahre lang sprach er regelmäßig mit Mitarbeitern von Exit. Mithilfe dieses Vereins steigen pro Jahr 50 Neonazis aus der Szene aus, um Anschluss zu finden an das Jetzt. Wenn Bauer genug Geld hat, will er sich die Tattoos mit einem Laser entfernen lassen.

"Danke, dass ich heute hier reden durfte", sagt er am Ende der Doppelstunde. Die Schüler klatschen. Es bleiben nur noch ein paar Minuten für Fragen. Ein Mädchen in der hinteren Reihe meldet sich. "Wenn man so lange den Scheiß mitmacht, muss da doch was bleiben", sagt es leise. "Da ist doch noch was da." Bauer antwortet, dass da nichts mehr sei. Zumindest nichts Ideologisches. "Ich bin Demokrat."

Nach dem Vortrag steht er auf dem Parkplatz der Schule und wartet auf das Taxi. Es ist spät und längst dunkel, das Laternenlicht scheint auf seinen Rollkoffer. Bauer steckt sich eine Zigarette an. Er erzählt jetzt nicht mehr von den "braunen Schlümpfen", sondern von Aufnahmen mit dem Rapper Cee Jay, die beide im Sommer in Zagreb machen wollen, für einen guten Zweck. Er engagiere sich auch in einem Kunstprojekt, mit dem er Menschen in Not unterstütze. "Das Soziale kommt in Deutschland viel zu kurz ", sagt er. Irgendwann wolle er nur noch das machen, sagt Bauer. Projekte, Kunst, Musik, eine Familie gründen. Vater werden, vielleicht. "Ich hole das jetzt alles nach", sagt er. Im Moment aber wollen die Menschen vor allem die Nazi-Geschichten von "Pistole" hören.

Die Frage von der Schülerin am Ende der Stunde, das sei ihm immer sehr unangenehm. Bauer hört in der Frage die Zweifel an seiner Reue, er hört die Skepsis über seinen Sinneswandel, der in diesen Augenblicken immer mitschwingt. "Man nimmt es mir nicht immer ab", sagt er. "Das tut weh."