Der Schaden durch falsche Abrechnungen und Korruption im Gesundheitswesen geht in die Milliarden

Hamburg. Doktor B. hatte eine tolle Software auf seinem Praxiscomputer installiert. Immer wenn der Hamburger Allgemeinmediziner einem Patienten ein Rezept verschrieb, tauchte zuerst ein Medikament der Firma Ratiopharm auf, falls die ein entsprechendes Präparat im Sortiment hatte. Das ließ sich Dr. B. honorieren. Gut 10 000 Euro zahlte das Ulmer Pharmaunternehmen an den Arzt. Dafür verurteilte ihn das Landgericht zu 90 Tagessätzen à 300 Euro wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr.

Ein kleiner Fall von Korruption im dschungelartigen Geflecht von Betrügereien im Gesundheitswesen. Und hier ist vermutlich nicht einmal eine Krankenkasse und damit die Allgemeinheit der Beitragszahler geschädigt worden. Doch durch Betrug entsteht den Kassen jedes Jahr ein Schaden von 13,5 Milliarden Euro. Das schätzt die Anti-Korruptionsorganisation Transparency in Anlehnung an Zahlen eines europäischen Netzwerks zum Betrug im Gesundheitswesen. Die Krankenkasse KKH-Allianz deckte im vergangenen Jahr 589 Fälle auf und forderte 934 000 Euro von Ärzten, Apothekern und Physiotherapeuten zurück. Dass diese Summe so gering ausfällt, hat mit undurchsichtigen Fällen, wenig Verständnis bei den Staatsanwaltschaften und immer neuen Formen des Abzockens zu tun.

"Leider kommt es längst nicht in allen Fällen zu einer adäquaten Strafverfolgung", beklagte KKH-Allianz Chef Ingo Kailuweit. "Häufig sind die Ermittlungsbehörden personell nicht gut genug ausgestattet, um in einem derart komplexen Themengebiet ihrer Arbeit bestmöglich nachzugehen. Außerdem mangelt es zu oft an Spezialwissen."

Kailuweit schlägt Fortbildungen für Staatsanwälte vor. Außerdem sollten Patienten unaufgefordert nach einem Arztbesuch eine Patientenquittung bekommen. Das könne verhindern, dass Dinge abgerechnet würden, die gar nicht behandelt wurden.

Das sind Betrügereien, die in der Vergangenheit aufgefallen sind:

Im Krankenhaus werden bisweilen Behandlungen codiert, die nicht oder anders stattgefunden haben. In Berlin wurden vor eineinhalb Jahren bei einer Razzia mehrere Klinken durchsucht und Ärzte verhaftet. Immer wieder praktiziert: Kliniken zahlen Ärzten scheinbar Honorare für Beobachtungsstudien mit ihren Patienten. Damit wird kaschiert, dass das Geld eigentlich dafür fließt, dass der Arzt die Patienten gezielt in diese Krankenhäuser überwiesen hat - die Fangprämie.

In Arztpraxen versuchen Betrüger Leistungen für Behandlungen abzurechnen, die nicht stattgefunden haben. Außerdem wurden Fälle bekannt, in denen Mediziner zum Beispiel Botox für die Krebs-Therapie abgezweigt haben, um es für hochpreisige Schönheitsoperationen anzubieten. Es sind bereits regelrechte Kartelle von Ärzten und Apothekern aufgeflogen.

Bei Apothekern ist es vorgekommen, dass Originalpräparate abgerechnet, aber Nachahmer oder ein Import-Medikament verkauft wurden. Bei einem fürchterlichen Betrug mit Krebsmitteln flogen Apotheker auf, die für ihre Mischungen günstigere Zutaten aus dem Ausland verwendeten, obwohl sie sich die teure Variante bezahlen ließen. Patienten sind vermutlich nicht zu Schaden gekommen. Bisweilen spielen auch die Kranken mit.

Patienten sind dabei erwischt worden, wie sie ein Rezept für HIV-Arzneimittel zur Apotheke brachten, aber geringwerte Medikamente oder sogar Bargeld bekamen, während der Apotheker das teure Rezept abrechnete. Hier ging es bei Fällen in Berlin um einen Schaden in Millionenhöhe. Die Versichertenkarte - bislang noch ohne Foto - wird zum Teil bedenkenlos weitergegeben, um Freunde oder Bekannte behandeln zu lassen.

Unter den Krankengymnasten gibt es ebenso schwarze Schafe. Ein Physiotherapeut rechnete manuelle Therapien und Lymphdrainagen ab, für die er gar keine Berechtigung hatte. Er reichte Zertifikate ein, die jedoch eine Frau besaß, die sich bei ihm beworben hatte, aber nicht arbeitete.

Bei der häuslichen Pflege gibt es ebenso Verfehlungen. In den Top Ten der Betrügereien rangiert sie bei der KKH auf Platz drei. Ein Pflegedienst in Hannover soll Leistungen abgerechnet haben, die er nicht erbracht hatte. Und Mitarbeiter sollen Versicherte ohne Pflegebedürftigkeit "durch Geschenke dazu gebracht haben, einen desolaten Gesundheitszustand vorzutäuschen", beklagt die KKH.

"Die Zahlen der KKH-Allianz sind nur die Spitze des Eisberges", sagte Anke Martiny, Vorstandsmitglied von Transparency. "Trotzdem ist der Faktor Abschreckung bei der Ausplünderung des Gesundheitssystems immer noch zu schwach. Erst wenn es gelingt, Anwendungsbeobachtungen als Marketinginstrument auszuschalten, niedergelassene Ärzte im Hinblick auf Vorteilsannahme wie angestellte Ärzte zu behandeln, unzulässige Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken wirksam zu verfolgen, werden wir die Verlustquote wirkungsvoll absenken können."

Vor Jahren hatte die Politik angemahnt, dass alle Kassen den Betrug intensiver bekämpfen. Passiert ist wenig. Neben der KKH-Allianz ist es vor allem die TK, die systematisch Betrügern nachstellt, oft im Verbund mit der AOK. Ein Sprecher der AOK Niedersachsen wies darauf hin, dass sich auch die Dimension der Betrügereien verändere. Es gebe die Tendenz zu überregionalen, bundesweit agierenden Netzen. Der Bundesgerichtshof urteilt demnächst darüber, ob niedergelassene Ärzte überhaupt als "Beauftragte der Krankenkassen" gelten oder als Freiberufler gar nicht von Pharmafirmen bestochen werden können. Vorlage für die Richter ist der Fall von Dr. B. und Ratiopharm.