Wissenschaftler fordert einen Demografie-Soli, um die Sozialsysteme zu retten

Hamburg/Köln. Immer längere Lebenszeiten, immer weniger Kinder: Dieser Trend wird sich in Deutschland in den kommenden Jahren dramatisch beschleunigen. Nach einer neuen Studie der Universität Köln könnte sich die Zahl der Hundertjährigen in der Bundesrepublik innerhalb von 50 Jahren verzwanzigfachen. Ein Mädchen, das dieses Jahr geboren wird, hat demnach eine durchschnittliche Lebenserwartung von fast 93 Jahren. Bei den Jungen sind es immerhin knapp 88 Jahre. Jedes vierte heute geborene Mädchen wird nach den Berechnungen 100 Jahre alt werden - und damit noch das 22. Jahrhundert erleben.

Für die sozialen Sicherungssysteme hat diese Entwicklung gravierende Folgen. Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung könnten drastisch teurer werden. Nach der Prognose des Kölner Demografen Eckart Bomsdorf, eines der Autoren der Studie, ist es durchaus realistisch, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von heute 2,2 Millionen auf 4,5 Millionen Menschen im Jahr 2050 ansteigen wird.

Legt man den voraussichtlichen Bevölkerungsrückgang zugrunde, bedeutet dies: Im Jahr 2050 könnten mehr als sechs Prozent der Menschen in Deutschland pflegebedürftig sein - heute sind es 2,6 Prozent. Zwar könne niemand mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob es tatsächlich so weit kommen werde, sagte Bomsdorf dem Abendblatt. "Aber eine Bevölkerungsvorhersage für die nächsten 40 Jahre ist sicherer als die Wettervorhersage für die nächsten zehn Tage."

Der Nationalökonom, der schon Politiker bei der Ausarbeitung der "Rente mit 67" und der Novellierung der Pflegeversicherung beraten hat, schlägt die sofortige Einführung eines Demografie-Solidaritätszuschlags vor. Aus den Mitteln dieses "Demo-Solis" solle ein Demografiefonds aufgebaut werden, der später dazu dienen könne, die Belastungen in den kritischen Jahren aufzufangen. "Aber damit müsste man sofort beginnen, denn es ist jetzt schon fünf nach zwölf!", fordert Bomsdorf. Die Rente mit 67 Jahren sei ein richtiger Schritt gewesen. Notfalls könne man die Altersgrenze noch ein weiteres Mal heraufsetzen.

Die Grünen fordern ein gesellschaftliches Umdenken über die Folgen des Altwerdens. "Das Leben in Altenheimen und Wohnheimen wurde zu lange forciert. Das sind gesellschaftliche Auslaufmodelle, die von älteren Menschen als Sackgasse wahrgenommen werden", sagte die grüne Demografie-Expertin Tabea Rößner dem Abendblatt. "Stattdessen müssen wir alternative Wohnprojekte stärker fördern: das generationenübergreifende Zusammenleben genauso wie den altersgerechten Umbau von privaten Häusern."