Seit der Wende gab es in der mecklenburgischen Hansestadt nur eine Bürgermeisterin. Bei der Kommunalwahl an diesem Sonntag tritt sie nicht mehr an. Die Stadt brauche einen Wechsel.

Hamburg. Von den Männern hat sich keiner getraut. Aber sie. Als Rosemarie Wilcken sich wenige Wochen vor der ersten freien Kommunalwahl der Noch-DDR zur Spitzenkandidatur entschloss, hätte kaum jemand auf die Politeinsteigerin wetten wollen. "Die haben mich nur machen lassen, weil nicht mit einem Sieg der SPD zu rechnen war", sagt sie heute. Doch dann wurden die Sozialdemokraten in Wismar am 6. Mai 1990 überraschend stärkste Kraft. Und plötzlich waren die gleichen Männer der Meinung, dass eine Frau als Stadtoberhaupt doch nicht so geeignet sei. "Aber das habe ich gar nicht eingesehen. Ich wollte Verantwortung übernehmen", sagt Wilcken.

Sie hat sich durchgesetzt. Seit 20 Jahre ist Rosemarie Wilcken Bürgermeisterin von Wismar. Genauso lang wie es die deutsche Einheit gibt. Und wenn am Sonntag die Wismarer zur Bürgermeisterwahl aufgerufen sind, geht nicht nur in der Hansestadt eine Ära zu Ende. "Rosi", wie sie in ihrer Geburtsstadt genannt wird, kandidiert nicht wieder. Mit ihr verlässt einer der letzten kommunalpolitischen Akteure der Wendezeit die politische Bühne. "Die Stadt braucht einen Wechsel", sagt die 62-Jährige. Und es klingt, als müsse sie sich dessen selbst immer noch mal versichern. Am 19. Juli ist die Amtsübergabe.

In schnellen Schritten marschiert Frau Bürgermeisterin an diesem Aprilmorgen in praktischen Bequemschuhen durch ihre Stadt, von der gotischen Georgenkirche Richtung Rathaus. "Guten Tag", grüßt sie nach allen Seiten. Auch wildfremde Menschen, die sich verdutzt anschauen. Einer Touristenfamilie mit Kindern rät sie zum Besuch der Marienkirche. In der hoch aufragenden Backsteinkathedrale St. Georgen, deren seit 20 Jahren währender Wiederaufbau in diesen Tagen gefeiert wird, sagt sie Sätze wie diesen: "Diese Kirche steht symbolhaft für das Glück der Wiedervereinigung." Und die Menschen aus Oberfranken, Ostwestfalen und dem Saarland, die sonst über den Soli motzen, nicken begeistert.

In solchen Momenten ist die Selfmade-Politikerin ihren politischen Visionen ganz nah: den historischen Kern des Ostseestädtchens vor dem Verfall retten, den Industriestandort mit der ehemaligen Volkswerft erhalten, die 40 000 Wismarer in eine Bürgergesellschaft führen. "Damit bin ich angetreten, und daran hat sich nichts geändert", sagt Wilcken. Nur dass sie heute die eigene Naivität von damals kaum mehr glauben kann. "Mein Lebensziel waren demokratische Verhältnisse", sagt die Pastorentochter und Ärztin. Dass die Aufgaben als Bürgermeisterin vor allem aus Finanz-, Planungs- und Organisationsaufgaben bestehen, hatte sie schlicht übersehen.

Aber anders als viele Nachwende-Politiker hat sie sich nicht blenden lassen von der Größe der Idee des einigen Deutschlands, der Menge der Aufgaben, den Verlockungen der Investoren. Ja natürlich, sie bekommt leuchtende Augen, wenn sie von den Besuchen der Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker oder ihres Duzfreundes Johannes Rau spricht, von einem gemeinsamen Auftritt mit Willy Brandt. Besonders viel bedeutet hat ihr die Einladung von Helmut Schmidt in dessen Haus. "Er war schon in der DDR meine Ikone."

Trotzdem ist sie sich treu geblieben. Zweimal haben die Wismarer sie wiedergewählt, zuletzt mit 79 Prozent. "Ich bin nicht modern", hat die kleine, kompakte Frau, die das blonde Haar zum immer gleichen Knoten aufsteckt, einmal über sich gesagt. Aber durchsetzungsstark und fleißig. Sie hat für die Ostsee-Autobahn A 20 gestritten, um die Arbeitsplätze auf der Werft gekämpft, mit der Holzindustrie einen neuen Wirtschaftszweig in die strukturschwache Region geholt, den Wiederaufbau der Georgenkirche betrieben und der Wismarer Innenstadt zusammen mit Stralsund das Siegel Weltkulturerbe eingebracht. "Ich habe insgesamt mehr als eine Milliarde Investitionszuschüsse in die Stadt geholt", sagt sie. Klar ist sie stolz auf ihre Arbeit. Aber das sagt sie nicht, sondern: Gelungen sei das wegen der guten Zusammenarbeit, auch mit der CDU und der heutigen Linken.

Überwiegend positiv, so fällt die Bilanz der Stadtchefin aus. Wenn da nicht die jüngste Kommunalwahl wäre, bei der ihre SPD nur 34 Prozent holte. Und die Wirtschaftskrise, die vor allem die Werft trifft. Inzwischen heißt der hochmoderne Betrieb Wadan-Werft, gehört einem russischen Investor, und die übrig gebliebenen 700 Mitarbeiter leben von staatlichen Transfergeldern und der Hoffnung auf neue Aufträge. Anders vorgestellt habe sie sich das Ende ihrer Amtszeit, sagt die Bürgermeisterin. "Die Stadt ist optisch toll, aber hinter den Kulissen sehe ich die Probleme der Menschen mit ihren Einkommen, die im Durchschnitt gerade mal 14 000 Euro im Jahr nach Hause bringen. Für jemanden, der am liebsten heile Welt hat, ist das schwer zu ertragen." Trotzdem geht sie. Am 25. April bewerben sich sechs Kandidaten um ihre Nachfolge. Favorit ist SPD-Stadtrat Thomas Beyer. Ein Mann, den sie seit Jahren aufgebaut hat.