Er gilt als die moralische Instanz und auf ewig als der deutsche Bundespräsident, auch wenn er den größten Auftritt seiner Karriere beinahe vermasselt hätte.

Ich habe alle Bundespräsidenten seit 1949 gekannt, aber er ragt heraus." Was für ein wuchtiger und jeden Widerspruch erstickender Satz. Ein Satz, in dem das "aber" die anderen noch ein zusätzliches Stück herunterstutzt, den bis heute bewunderten Bundespräsidenten Theodor Heuss inbegriffen. Ein typischer Helmut-Schmidt-Satz eben, der Richard von Weizsäcker das höchste Podest zuweist.

Dem ehemaligen Bundespräsidenten werden in diesen Tagen viele Kränze gewunden. Allein vier neue Weizsäcker-Biografien sind erschienen, obwohl es eigentlich schon genügend alte gab und man sich fragen könnte, ob zum Lebenswerk eines seit sechzehn Jahren emeritierten Politikers noch Entscheidendes hinzukommen konnte.

Aber darum geht es ja gar nicht. Richard von Weizsäcker wird heute unglaubliche 90 Jahre alt. Unglaublich nicht deshalb, weil er diese Schallmauer überhaupt durchbricht, sondern weil er dabei so unverbraucht wirkt. Noch immer schauen und hören die Deutschen hin, wenn dieser ehemalige Bundespräsident etwas sagt. Egal, ob es um die Abschaffung der Atomwaffen geht oder darum, die Olympischen Winterspiele 2018 nach München zu holen.

Anders als Walter Scheel, der schon im vergangenen Jahr 90 geworden ist, oder Roman Herzog, der vor einer Woche seinen 76. gefeiert hat, taucht Richard von Weizsäcker nicht ab und zu mal auf, sondern er ist gewissermaßen immer da. Als letzte moralische Instanz.

Eine Rede, die Richard von Weizsäcker zu Beginn seiner ersten Amtszeit hielt, hat ihm diese Autorität bis heute verliehen. Diese Rede wurde zur deutschen Nachkriegsrede schlechthin. Richard von Weizsäcker hielt sie am 8. Mai 1985 im Bonner Bundestag. Im Kern ging es darum, dass der Bundespräsident die Deutschen damals aufforderte, der historischen Wahrheit ins Auge zu sehen und den 8. Mai 1945 nicht als Tag der Kapitulation, sondern als Tag der Befreiung zu begreifen. "Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen", sagte Richard von Weizsäcker damals. Er markiere das Ende eines Irrweges. "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen." Die breite Zustimmung, die die Rede im Inland fand, bewies, dass die Deutschen ihre Geschichtslektion begriffen hatten, und die große internationale Resonanz zeigte, dass das Ausland bereit war, das zur Kenntnis zu nehmen.

Erst viel später hat man erfahren, dass sich Richard von Weizsäcker seinen größten und entscheidenden politischen Auftritt um Haaresbreite selbst vermasselt hätte. Ursprünglich hatte der Bundespräsident nämlich vorgehabt, die Alliierten in dieser Rede um die Freilassung von Rudolf Hess zu bitten, der 1946 in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und seitdem im Kriegsverbrechergefängnis Spandau saß. So ein Gnadengesuch wäre an sich schon heikel gewesen. Angesichts der aktuellen Ereignisse - Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan hatten trotz massiven internationalen Protests am 5. Mai den Soldatenfriedhof von Bitburg besucht, auf dem 1945 neben deutschen Wehrmachtsangehörigen und amerikanischen Soldaten auch Angehörige der Waffen-SS beigesetzt worden waren -, hielten die Berater des Bundespräsidenten die Idee zu Recht für schlichtweg katastrophal. Sie sahen schon die Schlagzeilen vor sich: "Bundespräsident fordert die Freilassung von Hitlers Stellvertreter!" Friedbert Pflüger, der lange ein enger Mitarbeiter Richard von Weizsäckers gewesen ist, greift die Geschichte in seiner neuen Weizsäcker-Biografie noch einmal ausführlicher auf. Nun weiß man, dass Richard von Weizsäcker von seinen Mitarbeitern offenbar 36 Stunden lang bearbeitet werden musste, bis er bereit war, auf diesen Redepassus zu verzichten.

In dem sehr schönen Film, den Sandra Maischberger über Richard von Weizsäcker gemacht und den die ARD am vergangenen Mittwoch ausgestrahlt hat, konnte man Augenblicke solcher Bockbeinigkeit erkennen. Etwa wenn seine Frau Marianne etwas sagte, was ihm nicht passte, und er daraufhin die Augen verdrehte oder einfach den Kopf wegschwenkte. Auch kleine Momente der Eitelkeit. So sah man Richard von Weizsäcker einmal die breite Treppe zu seinem Büro hinaufgehen. Kurz vor dem Ziel musste er einen winzigen Augenblick pausieren, aber nach dem rettenden Geländer griff er nicht. Schließlich war eine Kamera dabei.

Fraglos ist er mit einer Physis gesegnet, die Staunen macht. Dem bereits erwähnten Helmut Schmidt hat das den knurrigen Satz abgenötigt: "Er hat die besseren Gene." Es wird also niemanden wundern zu erfahren, dass dieser Bundespräsident, der in seiner Jugend Leichtathletik betrieben hat, aber auch dem Feldhockey und dem Tennis zugetan war und das Goldene Sportabzeichen zehnmal ablegte - "Gerade im Alter bereitet das wahre Freude!" -, immer noch gern auf seine Langlaufskier steigt. Mens sana in corpore sano - in einem gesunden Körper wohnt eben ein gesunder Geist.

"Richard von Weizsäcker - Für immer Präsident" hat Maischberger ihren Film betitelt. Tatsächlich hat der Stuttgarter, der so preußisch wirkt, nur drei Jahre lang ein exekutives Amt innegehabt. Von 1981 bis 1984 ist er Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen. Den Fall der Mauer nannte er später ein "unvergleichbares Ereignis" seines Lebens. Am Tag der Deutschen Wiedervereinigung, dem 3. Oktober 1990, sprach er den später häufig zitierten Satz: "Sich zu vereinen heißt teilen lernen."

1984 ist der CDU-Politiker Richard von Weizsäcker dann ins höchste Staatsamt aufgestiegen. Auf die Frage, ob er sich bei seiner Kandidatur vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl unterstützt gefühlt habe, antwortet Richard von Weizsäcker bis heute nicht gern. Dass Kohl lange sein politischer Mentor gewesen ist, streitet er nicht ab. Fügt aber gerne hinzu, dass er es mit seinen Talenten wohl auch ohne den Mann aus Oggersheim in der Politik nach oben geschafft hätte. Tatsächlich haben Teile von CDU und CSU Richard von Weizsäcker lange distanziert gegenübergestanden.

Franz Josef Strauß gefiel sich bis zu seinem Ende in bösen Bemerkungen über den "Spezialgewissenträger im Präsidentenamt" und seine "ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbußaufgabe". Und wenn es stimmt, was man seit ein paar Tagen läuten hört, dann hat Kohl dafür gesorgt, dass Richard von Weizsäcker nicht zu der verspäteten Geburtstagfeier eingeladen wurde, die der Bund, das Land Rheinland-Pfalz und die Stadt Ludwigshafen dem Altbundeskanzler am 5. Mai ausrichten werden. Helmut Kohl kann Richard von Weizsäcker offenbar bis heute nicht verzeihen, dass der Parteifreund angesichts des CDU-Parteispendenskandals gefordert hatte, die Bestimmungen zur Parteienfinanzierung unter das Strafrecht zu stellen, und dass er Kohls persönliches Verhalten als "Zumutung" bezeichnet hatte.

Der Punkt, an dem der sonst so souverän und gelassen auftretende Richard von Weizsäcker bis heute selbst verletzlich ist, betrifft seinen Vater. Ernst von Weizsäcker war von 1938 bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Das Nürnberger Kriegsverbrechergericht verurteilte den Diplomaten nach Kriegsende zu fünf Jahren Haft, weil er Deportationsbefehle des Reichssicherheitshauptamts für französische Juden in das Konzentrationslager Auschwitz abgezeichnet hatte. Der Jurastudent Richard von Weizsäcker, der damals als Hilfsverteidiger für den Vater auftrat, plädierte auf "unschuldig". Begründung: Seinem Vater sei nicht klar gewesen, "was der Name Auschwitz bedeutete".

Bis heute steht Richard von Weizsäcker auf dem Standpunkt, die Verurteilung seines Vaters sei "historisch und moralisch ungerecht" gewesen. Dabei ist er es doch selbst gewesen, der den Deutschen als Bundespräsident zurief: "Wer seine Augen und Ohren aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten." Und ausgerechnet einer, der jahrelang der höchste Beamte des Reichsaußenministers gewesen war, sollte es nicht gewusst haben? Schwer zu glauben. Aber vermutlich lag beim Vater der psychologische Schlüssel für die im Rückblick rätselhafte Fixierung des Sohnes auf Rudolf Hess im Vorfeld des 8. Mai 1985.

Richard von Weizsäcker wäre nicht geworden, was er bis heute ist, wenn er damals tatsächlich in seiner Bundestagsrede die Freilassung von Rudolf Hess gefordert hätte. Seine Rede hätte nicht aus der Bitburg-Debatte herausgeleuchtet, sondern sie wäre schmählich darin untergegangen. Am Ende hat er damals alles richtig gemacht. Und deshalb stimmt, was Marion Gräfin Dönhoff einst über ihn geschrieben hat: "Wenn man einen idealen Bundespräsidenten synthetisch herstellen könnte, dann würde dabei kein anderer als Richard von Weizsäcker herauskommen."