Fast alle sahen in der heutigen Kanzlerin damals nur eine Übergangsfigur. Die Geschichte eines Fehlurteils.

Berlin. Nachdem Angela Merkel Kanzlerin geworden war, hat sie ihr neues Arbeitspensum beschrieben. Der Tag beginne für sie zwischen sieben und acht und ende zwischen 22 Uhr und Mitternacht. Sonnabends habe sie normalerweise ein paar Stunden frei. Und wie fülle sie diese Erholungspause? Mit "Nachdenken, sonst wird alles flach". Neulich saß sie an einem Sonnabend in der Oper. Und wer ab und zu einen Blick zu ihr hinüberwarf, konnte sehen, dass sie ganz bei sich und der Musik war. Es war ein Bild vollkommener Konzentration.

Vielleicht ist das ihr größtes Talent. Die Fähigkeit zur Beschäftigung mit dem Wesentlichen, zu der noch die unbestrittene analytische Begabung kommt. Und vielleicht konnte es überhaupt nur eine Naturwissenschaftlerin als erste Frau ins Kanzleramt schaffen. Eine Physikerin, die vieles im Leben rational als Experiment begreift.

Als Angela Merkel am 10. April 2000 in Essen zur Parteivorsitzenden der CDU gewählt wurde, weil die alte Führungsriege um Helmut Kohl mit dem Spendenskandal abgewirtschaftet hatte und die selbst ernannten Kronprinzen die Drecksarbeit nicht selber machen wollten, hat man auf ihre politische Halbwertszeit nicht viel gegeben. Zwei Jahre, hieß es in der Parteispitze, wird sie es wohl machen, aber spätestens dann wird einer der gestandenen Männer übernehmen. Der Merz oder der Wulff, der Koch oder vielleicht sogar der Rüttgers. So harmlos wirkte die Pfarrerstochter aus Templin damals mit ihrer Topffrisur.

Auch die Frauen gaben nicht mehr viel auf Angela Merkel, als sie im Januar 2002 auf die Kanzlerkandidatur verzichtete und dem Bayern Edmund Stoiber den Vortritt ließ. "Frauen kommen in den Vorhof, aber nicht ins Zentrum der Macht", befand die ehemalige CDU-Familienministerin Rita Süssmuth resigniert, und Maria Böhmer, die Vorsitzende der Frauen-Union, schaltete gleich aufs Imperfekt um. "Mit einer Frau an der Parteispitze war es erstmals möglich, an eine Frau als Kanzlerkandidatin zu denken." Auch aus anderen Parteien kamen Beileidsbekundungen. Macht sei eben männlich, befand die SPD-Politikerin Anke Fuchs, und die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zürnte: "Angela Merkels Verzicht auf die Kanzlerkandidatur ist für Frauen frustrierend."

Merkel selbst hat ihren überraschenden Verzicht (sie war heimlich zu Stoiber nach München gefahren und hatte ihm ihre Entscheidung unmittelbar vor dem entscheidenden CDU-Parteitag in Magdeburg mitgeteilt) damals so erklärt: "Ich habe ein Experiment mit mir selbst gemacht. Wie weit konnte ich gehen? Stellen Sie sich eine Lakritzrolle vor, die Sie dehnen. Sie glauben nicht, wie weit die sich dehnen lässt. Sie dürfen nur den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem der Faden reißt."

Die Stimmung in den Unionsparteien sprach damals für Stoiber. Hätte ihm Merkel nicht freiwillig den Vortritt gelassen, wäre der seidene Faden, an dem das Schicksal der Parteivorsitzenden damals hing, in Magdeburg gerissen. Dass sie die strategisch schwierigste und zugleich brillanteste Entscheidung ihres Lebens getroffen hatte, wurde erst klar, als Stoiber bei der Bundestagswahl im September 2002 scheiterte: Zwei Tage später nahm Angela Merkel ihrem eigentlichen und gefährlichsten Widersacher Friedrich Merz den Fraktionsvorsitz ab. Danach galt die "Haifischdompteuse" ("tageszeitung") als "heimliche Wahlsiegerin mit Lust auf mehr" ("Welt").

Der Rest ist Geschichte. Als CDU-Vorsitzende hat Angela Merkel ihre Partei modernisiert. Nicht immer zur Freude des katholischen Flügels, der die protestantische Kälte beklagte und von Heimatlosigkeit sprach. Der sich schwer tat mit der Erkenntnis, dass mit der Frauenrolle auch der Familienbegriff neu definiert werden musste. Aber als Angela Merkel drei Jahre später die Kanzlerkandidatur zufiel und sie es im September 2005 tatsächlich schaffte, die Union nach nur sieben Oppositionsjahren an die Macht zurückzubringen, wuchs in den Schwesterparteien allmählich der Stolz darüber, als erste deutsche Partei eine Frau ins Kanzleramt gebracht zu haben.

Angela Merkel hat ihrer Partei immer wieder ihr Durchsetzungsvermögen demonstriert. Sie hat den damals weitgehend unbekannten Horst Köhler parteiintern gegen den Widerstand aus Hessen und Bayern als Kandidaten für Amt des Bundespräsidenten durchgesetzt. Und als Köhler tatsächlich gewählt wurde, galt das als Beweis für ihre Macht. Für das Magazin "Forbes" war Deutschlands erste Kanzlerin 2006, 2007 und 2008 "die mächtigste Frau der Welt". Die Erfahrungen von Anke Fuchs in allen Ehren, aber heute würde niemand mehr behaupten, dass Macht männlich ist.

Allerdings weiß auch keiner, wie oft Angela Merkel ihr Lakritzrollen-Experiment im Lauf der Jahre wiederholt hat. Wer in diesen Tagen im Archiv stöbert, findet dort auch einen Leitartikel aus der "Süddeutschen Zeitung" vom 14. Januar 2002. Da heißt es am Ende: "Das 'Experiment', das Angela Merkel personifiziert hat, ist gescheitert. Erstaunlicherweise drehte sich von Anfang alles um die Frage, ob sie es 'schaffen' würde, ob sie stark genug wäre. Sie selbst hat das zu oft ungefragt beteuert. Wenn ein Mann scheitert, gilt er als unfähig. Angela Merkel wird als Mädchen in die Parteigeschichte eingehen." So schief konnte man damals liegen.

Bleibt nachzutragen, dass Angela Merkel im Herbst ihre zweite Amtszeit als Kanzlerin angetreten hat und dass in Berlin schon lange niemand mehr auf die Idee kommt, den Spruch von "Kohls Mädchen" aufzuwärmen.