Berlin. Die Kritik am Schweigen des Papstes zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche ist in den vergangenen Tagen immer lauter geworden. Gestern sprach der stellvertretende Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) von einer schweren Glaubwürdigkeitskrise der katholischen Kirche. Thierse, der auch Mitglied des Zentralkomitees der Katholiken ist, sagte im ARD-"Morgenmagazin": "Die Kirche muss mit sich ehrlicher und strenger sein, und das gilt natürlich auch für den Papst." Auch nach Einschätzung des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) haben die Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen "zur größten Kirchenkrise seit 1945" geführt. Deshalb erwarteten die jungen Katholiken in Deutschland dazu ein klares Wort von Papst Benedikt XVI., sagte der BDKJ-Bundesvorsitzende Dirk Tänzler.

Tatsächlich will der Papst bald seine Zurückhaltung aufgeben. Kurienerzbischof Rino Fisichella sagte dem "Corriere della Sera", der Papst sei "entschlossen", neue Maßnahmen zu erlassen. Er sitze hinsichtlich der Missbrauchsfälle "nicht in einem Elfenbeinturm". Benedikt XVI. hatte Missbrauchsfälle in Irland im Dezember als "abscheuliche Verbrechen" verurteilt und einen Hirtenbrief zu dem Skandal angekündigt. Dieser in naher Zukunft geplante Hirtenbrief werde eine "neue Darlegung" der "klaren Positionen" des Papstes sein, sagte Fisichella. Der stellvertretende Regierungssprecher Christoph Steegmans sagte in Berlin: "Die Bundeskanzlerin begrüßt, dass der Heilige Vater die Notwendigkeit einer vollständigen Aufklärung dieser abscheulichen Taten ausdrücklich unterstrichen hat." Es sei ein gutes Zeichen, dass die katholische Kirche und der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, "ausdrücklich die Rückendeckung des Vatikans haben". Die Regierung sei "in erster Linie zufrieden mit dem, was Zollitsch an Botschaften aus dem Vatikan mitgebracht hat".

Zollitsch hatte am Freitag bei einer Audienz mit dem Papst über die Missbrauchsfälle gesprochen. Danach drang lediglich an die Öffentlichkeit, dass der Papst sehr erschüttert sei. Beim Angelus-Gebet am Sonntag sprach das Kirchenoberhaupt den Skandal nicht an.

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) besteht nach den Worten eines Ministeriumssprechers auf einer "institutionalisierten Form der Aufarbeitung von Missbrauch" - in welcher Form auch immer. Inzwischen gebe es einen Termin für ein Treffen der Ministerin mit Zollitsch, sagte der Sprecher. Das Gespräch wurde vereinbart, nachdem sich Zollitsch bei der CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel über den Vorwurf der FDP-Politikerin beschwert hatte, die Kirche arbeite nicht konstruktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen. Merkel mahnte eine gesamtgesellschaftliche Debatte an, da es nicht nur um sexuellen Missbrauch in der katholische Kirche gehe.

Der Missbrauchsskandal hat jetzt auch im Erzbistum München-Freising personelle Konsequenzen. Erzbischof Reinhard Marx nahm den Rücktritt des Leiters des Seelsorgereferats I im Ordinariat, Domkapitular Josef Obermaier (65), entgegen. Obermaier übernahm damit die Verantwortung für "gravierende Fehler in der Wahrnehmung seiner Dienstaufsicht". Zudem wurde ein wegen sexuellen Missbrauchs seit 1986 vorbestrafter Tourismusseelsorger in Bad Tölz mit sofortiger Wirkung suspendiert. Er war in der Zeit, als der Papst Erzbischof von München und Freising war, nach Bayern versetzt worden. Am Sonntag wollte er noch eine Messe lesen, was zu Unmutsäußerungen unter den Gottesdienstbesuchern führte.