Das Leben von Stephanie Flämig änderte sich von einem auf den anderen Tag. Plötzlich wurde die 26-Jährige von Reportern belagert, sollte Interviews geben und Exklusivverträge mit einer TV-Firma unterschreiben. Die junge Frau aus Dinkelsbühl ist weder Popstar noch Sportlerin oder gefragte Politikerin. Sie ist Pflegehelferin und hat im Mai 2009 den skandalösen Umgang mit alten Menschen in einem fränkischen Altenheim nicht mehr ausgehalten. Zusammen mit ihrer Kollegin Katrin Haderlein (24) protokollierte sie die Missstände und machte sie dann öffentlich, sodass die Staatsanwaltschaft gegen mehrere Pflegekräfte wegen fahrlässiger Tötung von drei alten Menschen und Misshandlung von fünf weiteren ermitteln konnte.

"Die beiden jungen Frauen sind für mich Vorbilder für Zivilcourage", sagte der Münchner Pflegeexperte Claus Fussek. Er hat in seinem Büro Aktenordner voller Berichte über Misshandlung alter Menschen, "aber die meisten sind anonym". Dass Stephanie Flämig und Katrin Haderlein Vorbilder im besten Sinne des Wortes sind, ist unstrittig. Sie haben sich eingemischt und nicht weggesehen, haben sich engagiert und nicht gekniffen. Sie waren mutig und haben statt Beliebigkeit eine Haltung gezeigt, als sie spürten, dass da etwas völlig verkehrt läuft.

Vorbilder sind laut Definition Personen, mit denen sich - meist junge - Menschen identifizieren und deren Verhalten sie nachzuahmen versuchen. Studien besagen, dass knapp 60 Prozent der Jugendlichen in Deutschland ein Vorbild haben, meist Stars aus Kultur, Medien oder Sport. Und dass Mutter und Vater immer noch den ersten Platz belegen. "Sie brauchen Kinder nicht zu erziehen, sie machen einem sowieso alles nach", hat der Komiker Karl Valentin gesagt.

Genau hier aber beginnt das Problem. Was ist, wenn Vorbilder versagen? Dass aus Saubermännern bei näherem Hinsehen Buhmänner werden, ist nichts Neues. Wenn Sportstars wie Tiger Woods oder Rockstars fälschlicherweise und manchmal auch unfreiwillig zu Vorbildern werden und dann ihre Sex- oder Drogenbeichten ablegen, hat das mithin noch einen kurzweiligen Unterhaltungswert.

Die Fallhöhe von Politikern und Kirchenvertretern ist da ungleich höher. Zwar ist es auch hier so, dass es im Grunde etwas Beruhigendes hat, wenn ihre Repräsentanten fehlbar sind. Es macht sie selbst menschlicher und entlastet uns, weil es den Druck nimmt, selbst perfekt funktionieren zu müssen. Das Problem aber hat Fjodor Dostojewski in seinem "Tagebuch eines Schriftstellers" trefflichst beschrieben: "Bevor ihr den Menschen predigt, wie sie sein sollen, zeigt es ihnen an euch selbst." Oder anders: Es ist halt ein gewaltiger Unterschied, ob man auf der Kanzel oder auf dem Golfplatz steht. Und wenn Margot Käßmann als oberste Repräsentantin von 25 Millionen evangelischen Christen in einem Interview das mangelnde Verantwortungsbewusstsein von Autofahrern kritisiert hat, "insbesondere wenn Alkohol oder Drogen mit im Spiel sind", dann hat sie nach ihrer Promillefahrt jetzt ein Problem.

Nun ist eine Bischöfin keine Heilige, und da sie streitbar ist, wird man auch nicht lange auf die warten müssen, die den ersten Stein werfen. Es sind die üblichen Reflexe. Letztlich kann nur Margot Käßmann selbst die Frage beantworten, ob sie glaubt, für ihr Amt noch genügend moralische Autorität zu besitzen.

Sollte sie sich, als Konsequenz aus ihrem Fehlverhalten, zum Rücktritt entscheiden, heißt das im Übrigen nicht, dass sie ihre Vorbildfunktion verlieren muss. Man muss dafür zum Glück kein öffentliches Leben führen. Die meisten Vorbilder kennen wir gar nicht - obwohl sie mitten unter uns leben.