Berlin. Erst gab es Empörung, dann begann die politische Sachdebatte, jetzt wird sich auch die Bundesregierung offiziell und auf höchster Ebene mit Guido Westerwelles Hartz-IV-Thesen befassen. Die große Resonanz und die teilweise erbitterte Kritik scheinen den FDP-Chef nicht zu entmutigen, im Gegenteil. Gestern holte er aus zu einer weiteren Verteidigungsrede in eigener Sache. Auf einer Veranstaltung der "Bild"-Zeitung im Berliner Verlag Axel Springer stellte sich Westerwelle den Fragen von Hartz-IV-Empfängern und Geringverdienern. Dabei hielt er ausdrücklich an seiner These fest, dass im Streit um das Arbeitslosengeld zu wenig an den Mittelstand gedacht werde. "Da habe ich keinen Satz zurückzunehmen." Kritikern, die ihm vor allem seine Formulierung von der "spätrömischen Dekadenz" angelastet hatten, warf der FDP-Chef vor, ihn absichtlich missverstanden zu haben: "Ich habe nie gesagt, die Hartz-IV-Sätze sind dekadent. Das System ist dekadent."

Erst am Wochenende hatte Westerwelle vorgeschlagen, gesunde Arbeitslose zum Schneeschippen in Berlin einzusetzen. Bei einer Weigerung müssten den Betroffenen die Leistungen gekürzt werden. Gestern wiederholte der Außenminister, zum Teil mit ausdrücklicher Zustimmung seiner arbeitslosen Gesprächspartner, seine Forderung nach einem Arbeitszwang. "Wenn ein 24-jähriger junger Mann nachmittags ins Fitnessstudio geht, aber dann bestimmte Tätigkeiten als Erniedrigung empfindet, kann ich das nicht akzeptieren." Er selbst würde auch arbeiten, wenn er dadurch nur wenig mehr Einkommen hätte als Hartz IV. "Im Sozialstaat gibt die Allgemeinheit das Geld. Da kann man von jedem erwarten, dass er auch etwas zurückgibt."

Bei dem Treffen im Springer-Haus saßen Menschen mit verschiedenen Hintergründen am Tisch: eine alleinerziehende Mutter mit einem lernbehinderten Kind, eine Aufstockerin, ein älterer Arbeitsloser. Ein Teilnehmer Anfang dreißig, der keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, muss sich mit mehreren Minijobs über Wasser halten. Er wollte von Westerwelle wissen, warum der einen flächendeckenden Mindestlohn ablehnt. Westerwelle antwortete: "Sie sind doch ein fleißiger junger Mann. Wenn Sie nicht jetzt den Ausbildungsabschluss anpacken, wann wollen Sie es machen?"

Die letzte Frage des Tages betraf übrigens nicht Hartz IV, sondern Westerwelles Zuständigkeit. Ein Hartz-IV-Empfänger fragte Westerwelle, ob er als Außenminister nicht andere Sorgen habe als Sozialstaatsdebatten. Dazu sagte Westerwelle: "Ich bin auch Vizekanzler, und damit bin ich für Deutschland verantwortlich. Frau Merkel macht ja auch Staatsbesuche."

Die FDP will prinzipiell weg von Hartz IV. In ihrem Programm zur Bundestagswahl hat sie ein Bürgergeld vorgeschlagen, in dem das ALG II sowie die Kosten für Wohnung und Heizen, das Sozialgeld (ohne Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen), der Kinderzuschlag und das Wohngeld zusammengefasst werden. Es soll nach den Vorstellungen der Liberalen als Pauschale in Höhe von 662 Euro vom Finanzamt ausgezahlt werden. Allerdings sieht auch das FDP-Konzept Zuschläge bei regionalen Besonderheiten vor.

Die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten für ALG-II-Bezieher, die die Annahme einer zumutbaren Stelle verweigern, sollen nach dem Willen der FDP besser angewandt werden. Gesetzliche Änderungen halten die Liberalen hier allerdings nicht für erforderlich.

Die Union hat das Bürgergeld-Konzept bislang abgelehnt, trägt aber Reformvorschläge zu Schonvermögen oder Zuverdiensten mit. Deshalb ist ungewiss, inwieweit die FDP ihre Forderungen wird durchsetzen können. Die Liberalen drängen, den Prüfauftrag zur Zusammenfassung von Sozialleistungen "umgehend" mit Leben zu erfüllen.