Die Kommunen klagen über die tiefen Löcher in den Kassen. Die Stadt Langenfeld zeigt, wie man sogar in Krisenzeiten in schwarze Zahlen kommt.

Langenfeld. Die Platanen vor dem Rathaus sind ordentlich geschnitten, das immergrüne Gebüsch ist kurzgehalten. An dem mit schwarzen Schieferplatten verkleideten Zweckbau flimmert eine große elektronische Anzeigetafel: "Sichern Sie sich Ihre Kunstpfad-Broschüre", wirbt die Verwaltung dort. Kaum jemand blickt hoch. Die Menschen eilen vorbei, verschwinden in der "Stadt-Galerie", einem dieser typischen modernen Einkaufszentren.

Auf den ersten Blick hat Langenfeld, dieser weit gestreckte Ort zwischen Düsseldorf und Köln, nichts, das es irgendwie besonders macht. Und doch ist Langenfeld republikweit bekannt. Zumindest bei den Finanzchefs der 12 500 Städte und Gemeinden in Deutschland. Mit beispielhaften Sparideen und vor allem viel Bürgersinn hat sich die 60 000-Einwohner-Stadt schuldenfrei gemacht - zum Beispiel indem sie die Reinigung der Wohn- und Nebenstraßen einfach abschaffte und stattdessen einige Tausend Besen für die Bürger kaufte. Zum Selberfegen!

Und dass die sich das gefallen ließen, hat viel mit der merkwürdigen Anzeigetafel am Rathaus zu tun: Bis vor Kurzem flackerte an der Stelle noch eine große Schuldenuhr mit Zahlenreihen für Bund, Land und die Stadt. Ein digitaler Tacho der öffentlichen Verschuldung. Ein Warnsignal, das deutlich macht, was man sonst nur hinnimmt wie schlechtes Wetter - ohne das Gefühl zu haben, man müsse selbst nach draußen. "Viele von uns haben da täglich hochgeschaut ", sagt Andreas Voss, ein Mittdreißiger, der die Öffentlichkeitsarbeit für die Stadt macht. Die Anzeige mit den Bundesschulden wechselte so schnell, dass man mit bloßem Auge die Zahlen kaum erkennen konnte, sagt Voss. Auch die Landesschulden ratterten unaufhörlich in immer neue Rekorde. Nur der Schuldenstand Langenfelds ging von Sekunde zu Sekunde centweise nach unten. "Ja, darauf sind wir hier stolz", sagt Voss.

Würde eine solche Anzeige am Hamburger Rathaus hängen, sie würde pro Sekunde (!) um 57 Euro hinaufzählen. Unerbittlich. Zinsen sind einer der dicksten Brocken im Haushalt der Hansestadt, fast 1,5 Milliarden Euro jährlich müssen die Steuerzahler nur dafür aufbringen.

Langenfeld zahlt keine Zinsen mehr, seit Ende 2008 ist die Stadt schuldenfrei, und sie ist es ein Jahr danach immer noch - trotz Finanz- und Wirtschaftskrise. "Als Stadt unserer Größenordnung ist das einzigartig", sagt Stadtsprecher Voss. Und auch der Bund der Steuerzahler lobt die rheinische Kommune als Vorbild.

Aber es war auch ein langer Prozess, sagt Magnus Staehler. Ein hochgewachsener, schwerer Mann, 52 Jahre alt, der zum Sakko eine Jeans trägt. Spross einer alteingesessenen Familie. An der linken Hand blitzt ein Siegelring. Mit 36 wurde Staehler für die CDU ehrenamtlicher Bürgermeister, dann machte er den Job 13 Jahre hauptamtlich. Zuletzt wurde er mit mehr als 70 Prozent wiedergewählt. "Mit Sparen kann man sehr wohl Wahlen gewinnen", sagt er. In den 80er-Jahren hatten seine Vorgänger angefangen, auf Neuverschuldung zu verzichten. Nicht mehr ausgeben, als man einnimmt, so heißt die schlichte Zauberformel. Der Schuldenstand lag bei umgerechnet 40 Millionen Euro (pro Kopf rund 670 Euro) - etwa einem Drittel des heutigen Gesamthaushalts. Damals waren gerade zwei große Gewerbesteuerzahler der Textil- und Stahlbranche abgewandert.

Dann, mit Staehler an der Spitze, nahm der Marsch in die Schuldenfreiheit Tempo auf. Er legte das Fundament für Gewinne. Schnelle, unbürokratische Genehmigungen, niedrige Steuersätze - damit holte er neue Unternehmen in die Stadt. "Steuerparadies Langenfeld", so hieß ein Slogan und bildet die erste Säule des Erfolgs. Heute kommen nach Langenfeld - einst eine sogenannte Schlafstadt - mehr Pendler hinein als hinausfahren. "Das war mein Ehrgeiz: zu beweisen, dass das geht. Dass es einen Weg aus dieser Jammerfalle gibt", sagt er in einem Sitzungszimmer, das mit transparenten Wänden mitten in einer restaurierten alten Fabrik eingebaut ist. Hier hat Staehler ein Büro. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, verabschiedete er sich kürzlich aus dem öffentlichen Dienst. Arbeitet nun als selbstständiger Berater und schrieb ein Buch: "1,2,3 Schuldenfrei" heißt es. Bundesweit und selbst nach Österreich reist er zu Kongressen und Vorträgen. "Nicht als Lehrmeister, sondern als Mutmacher", wie er sagt.

Doch wie lebt es sich in einer schuldenfreien Stadt? Ist sie kaputtgespart, sind die Straßen voller Dreck, regnet es in den Schulen durch? Was ist anders als in Nachbarstädten wie Mettmann, die nur noch mit einem Nothaushalt regiert werden und eine öffentliche Dienstleistung nach der anderen kappen müssen?

Im Ortszentrum von Langenfeld ist von Sparopfern nichts zu sehen. Kulturzentrum, Stadthalle, städtische Musikschule und eine neue Markthalle prägen das Areal. Alles neue Gebäude, auf einem Platz vor dem Markt hat sich Langenfeld gerade ein Wasserspiel geleistet.

Und in den Schulen? Das Konrad-Adenauer-Gymnasium in Langenfeld wirkt zunächst wie viele solcher schnell hingebauten Schulen der 70er-Jahre. Waschbeton-Fassaden, Flachdächer, lange Gänge. In der Pausenhalle steht Hausmeister Dietmar Druschke auf einer Leiter und wechselt eine flackernde Leuchtstoffröhre aus. Er ist gelernter Elektriker und gehört zum "Hausmeisterpool" der Stadt. Handwerker arbeiten dort, gelernte Fachkräfte. Eine Truppe von 23 Leuten für alle 19 Schulen - vorher waren es fast 50 Hausmeister. Ersparnis an Personalkosten: mehr als eine Million Euro pro Jahr. Genau genommen ist der Spareffekt noch größer: "Wenn früher eine Steckdose kaputt war, haben wir einen Elektriker gerufen. Der kam mit seinem Lehrling, sah sich das an, fuhr noch einmal zurück, um Ersatzteile zu holen", erzählt Druschke. Heute macht er das selbst. Ein Anruf der Schule - dann ist der Fachmann vor Ort.

"Ja, ich bin ein glücklicher Schulleiter", sagt deshalb Hans-Joachim Claas, ein freundlicher Herr mit grauem Bart. Während andere Schulen im Land Räume schließen müssen, weil wegen des Reparaturstaus gelegentlich Fenster aus der Fassade fallen, hat er sein Haus in Schuss. "Ich werde von Kollegen immer wieder gefragt, ob man nicht mal für ein Jahr tauschen könnte", sagt er und lacht.

Von Privatisierung solcher Dienste wie dem städtischen Hausmeisterpool hält Schuldenexperte und Ex-Bürgermeister Staehler im Übrigen nichts. Privat-Public-Partnership-Modelle, die Unternehmensberater verzweifelten Stadtvätern gern als Allheilmittel aufschwatzen, sieht er kritisch. Ein öffentlicher Betrieb muss keine Rendite bringen und weniger Steuern zahlen. "Unterm Strich", sagt Staehler", "sind wir 30 Prozent billiger." So langsam könne öffentlicher Dienst gar nicht sein, als dass dies kein Vorteil wäre.

Beim Personal hat er diese Philosophie konsequent durchgezogen. In der Kernverwaltung Langenfelds arbeiten heute gut ein Drittel weniger Menschen als in vergleichbaren Städten - diese Einsparung ist die zweite Säule des Langenfelder Entschuldungs-Phänomens. Doch dafür wird hier besser verdient. "Wir haben das Tarifsystem ausgereizt und darüber hinaus", sagt Staehler. Statt Führungspositionen nachzubesetzen, wurden in unteren Hierarchiestufen lieber zwei Leute befördert. Eine ganze Führungsebene fiel so nach und nach weg. "Das spart und motiviert", sagt Staehler.

Aber bedeutet das nicht mehr Stress, sind die Rathaus-Mitarbeiter ausgepowert, immer unter Druck? Hausmeister Druschke lehnt entspannt an seiner Leiter. Nein, eigentlich nicht, sagt er. Aufgaben hätten sich nur verändert. Früher hat er beispielsweise stundenlang den Schulhof fegen müssen. Heute macht das der Hofdienst der Schüler.

Und damit ist man bei der dritten Säule des Modells Langenfeld: dem schon erwähnten Bürgersinn. "Da war der größte Widerstand, wir mussten diese Vollkaskomentalität wegbekommen: Wir, die Bürger - und ihr, die Stadt", sagt Staehler und erinnert an die "Opfer" dieser Politik. Zuschüsse an Vereine wurden pauschal um 25 Prozent gekappt. Für die Benutzung von Sporthallen müssen die Freizeitsportler zahlen - allerdings nur Erwachsene. Große Freizeitbäder oder ähnliche Prestigeprojekte mit Folgekosten gibt es nicht in Langenfeld. Das Sportbad muss reichen. Anfangs gab es natürlich Proteste, doch schließlich machten die Langenfelder mit.

Und auch die Sache mit den Besen für Bürger scheint zu funktionieren: Am Memelweg ist heute beispielsweise Reinigung angesagt. Eine Einfamilienhaussiedlung, in den 70er-Jahren gebaut: Der Schnee ist gerade weggetaut. Viel Streusand liegt auf Gehwegen und Fahrbahn. Drei Männer fegen dort im Gleichtakt: "Anfangs gab es Widerstände, es hieß, alte Leute schaffen das nicht", sagt Gerd Paul Freiherr von Piwkowski, während er sich kurz auf dem Besen abstützt. "Aber wir machen es für unsere älteren Nachbarn einfach mit. Geht doch", versichert er.

Vor einigen Jahren hatte sich der Einkaufsleiter in einer Initiative für Lärmschutz eingesetzt. Heute ist er offizieller Stadtteilpate, der sich im Namen der Stadt der Probleme vor Ort als Erster annimmt. Ehrenamtlich, wie so viele hier. Jeder zweite Einwohner ist auf solche oder ähnliche Weise irgendwo tätig. Der Nachbar von Piwkowski ist Spielplatzpate, er verjagt Hunde, wenn die dort koten, oder er glättet schon einmal Schlittenhügel, wenn's zu gefährlich wird. Der Informationsschalter der Volkshochschule, das Stadtmuseum, der Kulturverein - vieles wird in Langenfeld durch die Bürger ehrenamtlich organisiert, wofür man andernorts viel Geld ausgibt.

Dieses Engagement zahlt sich aus. Seit die Stadt schuldenfrei ist, spart sie für einen Sonderfonds. Die Zinsen fließen in die "Bürgerdividende". Zusätzliche Bildungsprojekte für Schulen und Kindergärten werden daraus finanziert, Musikschule und Kultur gefördert. Eine Positiv-Spirale der Schuldenfreiheit, wenn man so will.

Doch der heutige Bürgermeister Frank Schneider weiß auch: Der Trainer, der seinen Verein in die erste Liga bringt, wird gefeiert. Sein Nachfolger, der dort oben bleiben will, muss kämpfen, ohne Applaus: Widerstände und Begehrlichkeiten wird es eben künftig auch in Langenfeld geben. Weil die Schülerzahlen rückläufig sind, will er demnächst eine Schule schließen. "Bürgerprotest, böse Leserbriefe und Lobbyarbeit bis hin zum Ministerpräsidenten" - das erwartet ihn nun. "Man muss Kurs halten und auch unpopuläre Entscheidungen treffen", sagt er.

Was nicht immer so leicht ist, wie das Schicksal der Langenfelder Schuldenuhr zeigt. Die nahe gelegene Stadt Grevenbroich hat sie zunächst genommen, um ebenfalls den Langenfelder Weg zu gehen. Dort gab es aber Streit, die Uhr ging deshalb in eine andere Gemeinde. Auch dort wurde man sich nicht einig, Also blieb die Uhr im Keller. Nun soll sie wieder zurück nach Langenfeld - ins Stadtmuseum.