Zum Start ins neue Jahrzehnt blickt das Abendblatt auf den “Bürger 2020“: Wie wird er leben, was steht ihm bevor?

Den Anstoß gab Chefredakteur Claus Strunz auf dem Neujahrsempfang des Abendblatts. Es antwortet Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Emnid.

"Nichts bleibt, wie es ist - und wenig kommt von allein!" Diese Prognose Willy Brandts hat heute noch an Dramatik zugenommen. Inzwischen nämlich verdoppelt sich das Wissen der Welt bereits alle zehn Jahre, wodurch sich die vormals Dritte-Welt-Länder mit unvorstellbarem Tempo unserem Wissen und unserem Lebensstandard angleichen. Will Deutschland seine Zukunft erfolgreich gestalten, müssen wir auf sechs Entwicklungen reagieren, die unser Leben bis 2020 revolutionär verändern werden:

1. Die Wirtschaft agiert global: Unsere Konkurrenz ist inzwischen die ganze Welt, andererseits aber wird auch die ganze Welt unser Markt. Wenn sich aber die Welt vereinheitlicht, müssen wir Abschied nehmen von unserer "Ich will so bleiben, wie ich bin"-Mentalität.

2. Die Deutschen werden mit weniger auskommen müssen. Was heute bereits 85 Prozent der Deutschen glauben. Also werden Vertrauen und Fairness, den Mangel gerecht zu gestalten, zum wichtigsten Entscheidungsmerkmal in der Politik, und die soziale Verantwortung von Unternehmen neben Preis und Qualität zum gleichwichtigen Kriterium beim Kaufentscheid.

3. Durch den weiterhin rasanten Technologiefortschritt wird IT-Know-how zum wichtigsten Zukunftsschlüssel. Die damit verbundene Transparenz wird einerseits viele bürokratische Regelungen überflüssig, andererseits aber auch jede Verhaltensweise transparent machen. Wir wissen alles, aber viele wissen auch alles über uns.

4. 2020 haben wir eine Gesellschaft der Alten: Fast 40 Prozent sind über 60, auf die - zunehmend in der Freiwilligenarbeit - der Staat nicht verzichten kann. Schnelligkeit und Kraft der Jugend als Motor der Gesellschaft bekommen Konkurrenz durch Weisheit und Kontemplation. Wissen und Lebenserfahrung werden zu gleichwertigen Qualifikationen wie Flexibilität und Spontaneität.

5. Die Familie ist nur noch eine Form des Zusammenlebens. Gleich wichtig sind "Klub-Familien", die sich über gemeinsame Interessen definieren. Wir leben tagtäglich in mehreren Familien: der Urlaubsfamilie, der Arbeitsfamilie, der Lebensabschnittspartnerfamilie. Das persönliche Netzwerk hat die Familie längst ersetzt. Erfolg hat, wer am besten vernetzt ist.

6. Es gibt keine langjährig festen Arbeitsplätze mehr: Man wechselt nicht nur ständig den Arbeitgeber, sondern auch das Tätigkeitsfeld. Nur wer bereit ist, lebenslang zu lernen, wird dazugehören. Ziel der Menschen ist nicht mehr der sichere Arbeitsplatz, Ziel ist der Erhalt ihrer Beschäftigungsfähigkeit. Die 7x24-Flexibilität wird zum wichtigsten Erfolgskriterium.

Diese grundlegenden Veränderungen werden in alle Lebensbereiche hinein regieren und bergen jede Menge Gefahren in sich: Dadurch, dass in die Freizeit Langsamkeit, Ideenreichtum und das Muss von zusätzlichem Gelderwerb zu Freizeittreibern werden, wächst in gleichem Maße auch die Gefahr der Schattenwirtschaft. Als Kunde haben wir mehr Zeit, informieren uns intensiver und werden zu deutlich kritischeren Konsumenten. Beim Konsum dominieren in Zukunft Einfachheit und Preisgunst über Image und Exklusivität: Die gemeinsame Nutzung ersetzt immer stärker den Einzelkauf. Und die Kostengunst des Internets reduziert nicht nur die Wirtschaftskraft des Einzelhandels, sondern führt zur weiteren Vereinsamung der Menschen, weil Sozialkontakte im Alltagsleben fehlen.

Weil es im Berufsleben immer seltener unbefristete Arbeitsplätze gibt, gibt es immer wieder beschäftigungslose Zeiten zwischen den einzelnen Jobs. Gearbeitet wird längst über 67 hinaus, aber eben nicht ständig. Personalintensive Dienstleistungen, also Altenpfleger, Sicherheitskräfte und Kundenbetreuer werden zu Berufen der Zukunft, weil sie billig sind und ohne lange Einarbeitungszeit flexibel durchgeführt werden können.

Der Technologiefortschritt hinterlässt die markantesten Spuren. Er entlokalisiert die Arbeit: Flexible Arbeitsplätze entstehen, "omnipräsentes Working" ist "in". Die Wohnung wird verstärkt zum Arbeitsort. Gearbeitet wird fast ausschließlich in auf Zeit gebildete Teams. Damit wird das Ablage- und Memowesen zur Schlüsselqualifikation.

Noch dramatischer wandelt sich das Informationsverhalten: Nicht die Nachricht bestimmt die Veröffentlichungszeit, wir bestimmen, wann wir unsere Informationen wollen. Und werden durch vielfältigste IT - Möglichkeiten - selbst zum Informanten.

Völliger Wandel auch beim Wohnen: Die Werbebotschaft 2020 ist die "mobile Immobilie": Im Prinzip nämlich wollen die "Born-to-Mover" ständig in ihren eigenen vier Wänden wohnen. Also bauen Architekten keine Häuser mehr, sondern normierte Waben, die überall in Stundenschnelle auf- oder abgebaut werden können und vor Ort schnell vergrößert oder verkleinern werden, wie es die aktuelle Lebenssituation gerade will.

Und in der Bildung geht es schon längst nicht mehr um möglichst intensives und genaues Faktenwissen, sondern vor allem um die beste Wissensgenerierung. Derjenige macht Karriere, der am besten die fünf großen "W": "Wo - Warum - durch Wen und Wann benötige ich Welches Wissens" beherrscht. Und weiß, wie er sich möglichst schnell von überflüssigem Wissen entledigen kann.

Nicht Fakten lernen, informieren lernen wird zur Zentralaufgabe der Bildungspolitik 2020.

Kein Wunder, wenn zwei Drittel der Deutschen Angst vor ihrer Zukunft haben. Denn auf die Politik wartet eine Aufgabe, die sie im Grunde nicht leisten kann: die ungewisseste Zukunft aller Zeiten in etwa abzuschätzen - und den Bürgern in einem Masterplan 2020 verständlich zu machen. Denn ein Zukunftssicherungskonzept ist nur mit einer Vision zu erreichen, die versucht, die Chancen zu nutzen - und Risiken nach Möglichkeit zu vermeiden. Um schließlich doch im globalen Wettbewerb zu bestehen.

Das allerdings wird nur gelingen, wenn sich die Politik neue Ziele setzt: die Sicherung halbwegs akzeptabler Bedingungen der schwer vermittelbaren Unterschicht. Und des Zeit- anstelle des materiellen Wohlstandes bei der ebenso angstvollen Mittelschicht.

Morgen lesen Sie einen Beitrag von Christine Ebeling, Sprecherin der Initiative "Kommt in die Gänge"