Wirtschaft bestehe zur Hälfte aus Psychologie, heißt es. Bei der Politik dürfte der Prozentsatz noch wesentlich höher liegen. Um Akzeptanz beim Wähler zu erreichen, wird übertrieben, dramatisiert, die eigene Leistung heroisiert und die des Widersachers verteufelt.

So war es auch gestern wieder bei der ersten Regierungserklärung von Kanzlerin Merkel nach ihrer Wiederwahl. Fehlstart, Spaltung der Gesellschaft, Schulden für die nächsten Generationen, wetterte der frischgebackene Oppositionsführer Steinmeier. Dabei stammt das, was die Deutschen in der vergangenen Dekade am meisten gespaltet und aufgeregt hat - nämlich Hartz IV und die Liberalisierung der Finanzmärkte - aus der Ära Rot-Grün und zu einem guten Teil aus der Feder Steinmeiers.

Für solche Entscheidungen hatten die neuen Koalitionäre noch gar keine Zeit. Unter anderem deshalb, weil sie bisher vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Und das, was bisher im Koalitionsvertrag vereinbart ist und die Kanzlerin als Krisenbewältigungsprogramm vorstellte, ist alles andere als das große Reformpaket, das Deutschland guttäte. Dafür gebe es angesichts von Schulden und Krise keinen Spielraum, heißt es. Das ist so mutig, als würde ein Trainer seiner Mannschaft vor dem Anpfiff sagen, es gebe heute leider keine Spielräume, weil der Gegner auch noch auf dem Platz sei.

Leicht gemacht wird das den Regierenden von einem Publikum, das überwiegend aus leidenschaftlichen Sparern und Vollkasko-Fanatikern besteht, das nichts so sehr scheut wie Veränderungen, das gerne unter der Abgabenlast stöhnt und doch keine Erleichterungen will, wenn sie denn schon einmal angeboten werden. Insofern passt Merkels Programm zu Land und Leuten. Und die Wahrheit zwischen ihrer und Steinmeiers Rhetorik liegt wie so oft irgendwo in der Mitte.